Hinfahrt
Ich bin zum Leonce-und-Lena-Lyrikwettbewerb 2023 schon mit Unbehagen angereist. Hatte die Gedichte nicht ausgedruckt, die Rüstung noch im Koffer, einen Helm aus Prinzip nicht dabei. Als ich auf dem Hinweg den Bericht anfing, dachte ich, die Frage ist: Warum sollen Nachwuchskünstler*innen den Körper immer wieder in so ein Gladiator*innen-Setting halten? Warum ist kein würdigeres Format zur Anerkennung und Förderung künstlerischer Arbeit denkbar? Warum habe ich mich beworben?
Ich dachte, es geht darum, wie sehr das eigentlich vor allem freundliche, nerdy Miteinander von Lyrik-Schreibenden künstlich unter Stress gesetzt wird (und das inhaltliche Gespräch über Lyrik ganz real unterminiert) bei Wettbewerben dieser Art:
– wenn etwa die Lesereihenfolge erst am Eröffnungsabend ausgelost wird und der erste Lese-Slot direkt danach kommt
– wenn ans Lesen ein öffentliches Kritikgespräch durch eine Jury anschließt, die die höhergelegte Bühne dauerhaft einnimmt, die also im eigentlichen Zentrum der Veranstaltung steht
– wenn sich auch finanziell alles auf die Preise konzentriert, es, anders als inzwischen bei manch anderen Wettbewerben, keine Nominierungspauschale gibt und alles oder nichts gilt
– allgemeiner durch dieses wording: »In öffentlichen Lesungen stellen sich der Jury:«. Stell dich, tritt an, setz dich durch, sieg.
Ich dachte, es ginge darum, dass mein Kommilitone Mariusz Hoffmann während des Schreibstudiums im Gespräch einmal sagte, wir sollten uns alle gegenseitig viel mehr auf Förderungen hinweisen, zum Mitmachen ermutigen, mitfiebern, mitfreuen, so, dass egal wird, wer jetzt dieses Mal einen Erfolg hat. Ich als weißes westdeutsches Mittelschichtskid war von dieser Idee überrascht und – was, berührt?
Ich dachte, die Höhe dieses Berichts wäre die Wiederholung der klugen Feststellungen zweier anderer Autor*innen. Mely Kiyak weist in ihrem Buch Frausein darauf hin, dass solidarisches Handeln und Kooperation Verhaltensweisen sind, von denen man in marginalisierten Communities besonders opulent träumt, auf die man besonders bezogen ist – gerade, weil man immer wieder die Erfahrung macht, von den öffentlichen Einrichtungen dieses Landes im Stich gelassen zu werden, nicht (mit-)gemeint zu sein. Kaśka Bryla wiederum merkt in einem Text für die Politisch Schreiben #6 an, dass kooperatives Verhalten für Menschen aus marginalisierten Positionen gerade dann nicht uneingeschränkt zu empfehlen ist, wenn es um die Kooperation mit öffentlichen Einrichtungen geht. Das heftige Machtgefälle in diesem Verhältnis führe zu leicht zu Ausbeutung.
Eine wie ich dagegen, eine von den deutschen Kulturinstitutionen Gemeinte, Geförderte, wird innerhalb dieser Institutionen definitiv nicht zu solidarischem Handeln ermutigt. Solidarisches Handeln in der Institution ist eine Überraschung, es gibt dazu keinen leidenschaftlichen, eigentlich einfach keinen Bezug. Ich kenne als Prinzip nur den Wettbewerb – den »Literaturbetrieb« lernt man von innen kennen, wenn man es schafft einen begehrten Platz zu ergattern.
Es kann schon sein, dass ich mir ein grundsätzliches Gegenmodell zum Wettbewerb wünsche. Nach diesem Wochenende in Darmstadt gibt es aber dringendere Fragen.
Ankunft
Zum Beispiel: Was trage ich hier mit? Mit welcher Institution kooperiere ich hier? Die Reihe der Nominierten ist mir im Vorfeld aufgefallen – wenig divers war unsere Neunerreihe (auch wenn dieser Befund immer eine Hypothese ist) und wenig divers das thematische Spektrum, das wir mitbrachten: Zum großen Teil nach innen gewendete Gedichte, eher gelegentlich und dann eher latent politisch (Feminismus; der Ausdruck von Trauer/Scham angesichts der Klimakatastrophe; seltene Andeutungen des russischen Angriffskriegs). Der Leonce-und-Lena-Wettbewerb dieses Jahr war leider ein Lyrik-Klischee, weil er sogar von einer Diskurs-Realität abgewandt war, in der man den Vorwurf an diese Vorauswahl schon bei der Vorauswahl hätte antizipieren – und gerechtfertigt finden – können. Meine dringendste Frage nach dem ersten Abend, nach der Vorstellung von Lektorat und Jury, stelle ich beim Abendessen den Organisator*innen:
Wer setzt die Vorjurys und Jurys dieses Landes ins Amt? Wie ist der Prozess geregelt, der entscheidet, wann gewechselt wird, und wer entscheidet, wer moderieren wird? Ich meine damit: Wie viele Auswahlgremien schaffen es immer noch, die zu jedem Buchmessepreis wiederholte öffentliche Debatte um mangelnde Diversität im Auswahlgremium nicht auf sich zu beziehen?
Max Czollek, der einzige Mitnominierte mit offensiv (oder eher: selbstverständlich) politischen Gedichten, sagte in einer Pause: »Es ist, als würde ich mit der Bewerbung mein Einverständnis erklären mit all dem, und auch mit der Gewalt, die mir dann angetan wird.«
Spektakel
Die Besprechung seiner Gedichte war auch, wie zu erwarten, der Tiefpunkt der Kritik. Von germansplaining (ein spärlich informiertes Referat über die Figur des Golems aus der jüdischen Mystik) über den Umstand, dass das größte Lob an die Texte darin bestand, es seien »Gelegenheitsgedichte« bis hin zum verzogenen Mund, der Hinweis auf SS-Morde am Ende eines Gedichts sei »irgendwie ideologisch« – diesem federleicht Dahingesagten hätten Nachfragen einer Moderatorin gutgetan, über diese Auslassungen hätte eine Jury sich meinem Eindruck nach etwas ernsthafter streiten können.
Dafür muss sie vielleicht anders zusammengesetzt sein. Dafür braucht es nach wie vor Stimmen, die sich Diskriminierungserfahrungen nicht erst vorstellen müssen, um sie ernst zu nehmen, die weitere Referenzräume mitbringen. Das täte der »Lyrik in Deutschland« gut: auch anerkannt, bearbeitet, erkannt, ausgezeichnet zu werden jenseits von Bibel, Mittelhochdeutsch, Wagner (ausgerechnet), Kunstgeschichte und Naturwissenschaft. Dann würde sie vielleicht auch hier eingeschickt werden. Dann sähe die Liste der Nominierten anders aus.
Man lasse sich den folgenden Satz mal auf der Zunge zergehen: Für Eine-wie-mich würden sich dann die Chancen auf eine Nominierung verschlechtern. Was für ein sinnvoller Schluss lässt sich aus diesem Wissen um den unfairen Wettbewerb ziehen? Wenn ich mein Nicht-Einverstanden-Sein erklären will, höre ich also auf, mich zu bewerben? Ich ahne irgendwie, dass das nicht die Lösung ist.
Die Lösung ist auch nicht persönliche Kritik an dieser spezifischen Vorauswahl von Christian Döring, Kurt Drawert und Hanne F. Juritz. Es geht mir nicht persönlich um die Jury mit Ulrike Draesner, Jan Koneffke, Peter Geist, Cornelia Jentzsch und der Moderatorin Beate Tröger, denen ich grundsätzlich für ihre Arbeit-an-der-Lyrik danke, deren Expertise ich nicht anzweifle, deren Gedanken zu den Texten ich teilweise extrem erhellend fand, deren Arbeit ich teilweise vor der Veranstaltung kannte und sehr schätze. Es geht nicht um konkrete Organisator*innen von Stadtseite aus.
Es ist das mit dem Verpuffen der Verantwortung, wenn es bequem ist, weil die eigene Realität nicht mit einer anderen konfrontiert, durch Widerspruch auf dem Podium herausgefordert wird. Es ist, dass man sich auf diesen Podien in dieser völlig uneindeutigen Gegenwart doch oft sehr einig ist über den Wert kultureller Referenzen oder die »Aufgabe« von Gedichten, dass zum Beispiel eine Botschaft in einem Gedicht eine Botschaftslast ist. Als ob wirklich die Gefahr bestünde, dass Lyriker*innen bald nur noch Demoschilder einschicken. Es ist, dass, wenn die gesellschaftliche Gruppe keine Überlebensstrategie braucht, man das Teilen nicht gewohnt ist. Das hier ist ein Beispiel von vielen, und die Verantwortung diffundiert bis zum nächsten Wettbewerb, tausendmal schneller, als ein Gegenmodell vorgeschlagen ist.
Ich habe zum Prinzip der Besetzung dieser Gremien nicht mein Einverständnis gegeben. Es wurde mir am ersten Abend über dem Salat auf Nachfrage erklärt, dieses Prinzip: Zu einem Wechsel kommt es nur bei Unlust/Rücktritt oder bei Tod eines Mitglieds. Tatsächlich hatte die Jury dieses Jahr den Verlust eines Mitglieds zu beklagen, des beliebten und sichtlich vermissten Lyrikkritikers Michael Braun, der leider im vergangenen Dezember verstarb. Nun ist ganz konkret eine Stelle frei. Wenn sie sich einmal stellt, könnte die Frage der Nachbesetzung nicht in Zukunft anders als spontan durch Vorschläge aus Lektorat und Jury beantwortet werden? Was könnten gute Regeln für die Auswahl der Auswahlgremien sein?
Der Leonce-und-Lena-Preis hatte dieses Jahr nur noch halb so viele Einsendungen wie in den Jahren davor. Vielleicht schafft eine solche Institution sich selbst ab, vielleicht muss das sein. Weil aber eine Institution, die für Lyrik insgesamt 16.000 € vergibt, eine Seltenheit und Lyrik im Literaturbetrieb nach wie vor unterrepräsentiert und underfunded ist, wäre etwas daran ein großer Verlust.
Abreise
Die Preisverleihung ist vorbei, ich bin wie erschlagen. Es war ein Wochenende zum Radikalisieren, und das wäre nicht anders, hätte ich einen der Preise gewonnen. Ich freue mich ehrlich für die drei Preisträger*innen Alexander Schnickmann, Sophia Klink und Robert Stripling.
Mir hängt eine Formulierung nach, die in der Besprechung der wirklich kunstvollen, gekonnten, auch sehr gelehrten Gedichte Robert Striplings fiel. Die Rede war hier von »Poesie als Strategie der Handlungsvermeidung«. Für diese Poesie stand mit seinem Rahmen und seinen Entscheidungen der Leonce-und-Lena-Wettbewerb 2023.
Ich wollte also zu Beginn dieses Berichts über das gladiator*innenmäßige solcher Veranstaltungen klagen und darüber, dass ein Gedicht sich nicht als Kampfmittel eignet – zwar will ich jetzt noch immer nicht gegen andere Lyriker*innen kämpfen. Aber ich habe das Gefühl, meine eigenen Texte dringend stärker in die Nähe von Handeln rücken zu wollen. Wenn schon der Wettbewerb nicht so schnell aus der Welt zu schaffen ist – die Verzerrung des Wettbewerbs muss verringert werden. Regeln für die Auswahl der Auswahlgremien!
Ein Juror erwähnte das »Konjunktivische« meiner Gedichte. Gegen Ende, als die letzten Texte in den Indikativ wechseln, würden diese Gedichte schwächer, flacher auch. Ich will nicht, dass die Stärke meiner Arbeit in einem Konjunktiv liegen könnte, der Einverständnis mit dem Rahmen bedeutet. Der Konjunktiv kann grammatikalische Feigheit sein.
Ich wechsle jetzt also in den Imperativ für eine Regel, für eine Ansage, die ich schon direkt nach Erscheinen meines Debütromans machen wollte: Wer sich in Zukunft dafür entscheidet, mich auszuwählen, der muss mit mir mindestens eine marginalisierte Stimme nominieren, zum Beispiel jüdische Autor*innen, Autor*innen of Color, queere Autor*innen mit Migrationsgeschichte, mit Behinderung. Wer meinen Roman für die Schulbibliothek bestellt: Kennt ihr schon Semra Ertans, kennt ihr May Ayims Gedichte? Ich hoffe es sehr, sie passen wirklich hervorragend in jedes Regal. Sind die bestellten Texte von Audre Lorde für den Philosophie-Unterricht schon angekommen? Und das Standardwerk für alles Mögliche (Sozialkunde, Politik, Deutsch) – »Eure Heimat ist unser Albtraum«? Ja? Juhu!
Und da Eine-wie-ich eine queere Frau ist, zum Schluss ein Blick in die Runde, zu meinen Kolleg*innen. Schließt euch gerne an mit Regeln dieser Art: Regeln für die Auswahl!
Schlussbemerkung
Bei der Uraufführung von Sivan Ben Yishais Stück »Bühnenbeschimpfung« am Gorki Theater gab es eine Szene, in der die Schauspieler*innen, nachdem sie zusammen mit der Stimme der Autorin etwa zwei Stunden lang das Theater als Institution beschimpft hatten, aus grellbunten Kissen neue Säulen aufbauten. Auf den Säulen lag bald ein Querstreben, auf dem sie große Lettern anbrachten:
Kritik = Liebe
Der Konjunktiv kann natürlich mehr als Feigheit. Er kann auch eine Haltung der Behutsamkeit und Aufmerksamkeit jemandem oder etwas gegenüber ausdrücken, etwas Vorsichtiges, Zurückgenommenes. Und, klar: die Utopie. Wie schön wäre es, wenn nicht nur die freie Szene, sondern wenn auch die wenigen Institutionen, die Lyrik auf finanziell ausgestattete Weise lieben, die Vielfalt der Erfahrungen dieser Gesellschaft abbilden könnten und würden, die Vielfalt ihrer Formen, ihrer Referenzräume und kulturellen Reichtümer, ihrer Positionen, meinetwegen auch Geschmäcker? Wie schön wäre es, zu einem solchen Wettbewerb anzureisen mit Vorfreude auf die anderen – und mit dem Gefühl, auf den Rahmen zu vertrauen.
Textbezüge:
Mely Kiyak – Frausein. Hanser Verlag (2020).
Kaśka Brylas Essay in der PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb, Ausgabe 6 Das Prosadebüt (2020).
Semra Ertan – Mein Name ist Ausländer. Edition Assemblage (Neuauflage erscheint im Frühjahr 2023).
May Ayim – Blues in schwarz weiss & nachtgesang. Unrast Verlag (2022).
Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah (Hrsg.) – Eure Heimat ist unser Albtraum. Ullstein (2019).
Sivan Ben Yishai – Bühnenbeschimpfung. Suhrkamp Theaterverlag (UA 2022 am Maxim Gorki Theater).