Immer wieder ertappe ich mich in letzter Zeit dabei, dass ich mir einrede, die Neunziger würden sich nicht wiederholen. Vielleicht täusche ich mich. Zum Glück sind noch keine Todesopfer zu beklagen, aber alles andere ist doch wieder da: Jede Woche Anschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten. Grölende Rassisten in Pogromstimmung. Dazu Politikerinnen und Politiker der gesellschaftlichen Mitte, die die rassistische Ablehnung von Geflüchteten amtlich exekutieren. Allerdings gerieren sie sich dabei aufgeklärter, empathischer, glatter, also unangreifbarer als noch zu Zeiten Helmut Kohls.
Flüchtlinge – darunter Frauen und Kinder – grölend und pöbelnd anzufeinden, sei kaltherzig, erklärte zum Beispiel der Sprecher der Bundesregierung Steffen Seibert nach den Vorfällen in Clausnitz. Kaltherzig? Erinnern wir uns: Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat »Mare Nostrum«, das Seenotrettungsprogramm der italienischen Regierung, so lange torpediert, bis diese es Ende Oktober 2014 eingestellt hat. Bootsflüchtlinge vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu retten, bezeichnete de Maizière als »Pull-Faktor«. Dahinter steckte die These: Wenn Flüchtende ertrinken, wirke das wenigstens abschreckend auf andere, die auch nach Europa kommen wollen. Das war sehr viel kaltherziger als die rassistischen Proteste in Clausnitz, Bautzen und anderswo.
Die EU hat aufgrund interner Prognosen genau gewusst, dass mehr Menschen sterben werden, und dies bewusst in Kauf genommen, wie eine Studie des Londoner Goldsmiths College jetzt nachweist. Übrigens hat die Logik der Abschreckung durch Ertrinkenlassen nicht einmal funktioniert: Im Jahr 2015 sind über 3.700 Menschen auf ihrer Flucht im Mittelmeer gestorben. Fast 3.300 Flüchtlinge haben 2014 auf dieselbe Weise ihr Leben gelassen. Zugleich sind 2015 aber mehr als eine Million Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Griechenland und Italien in die EU gelangt – fünfmal so viele wie im vorangegangenen Jahr. Täglich starben auch Anfang 2016 durchschnittlich zwei Flüchtlingskinder im Mittelmeer. Hätten wir das all die Jahre über zugelassen, wenn das europäische Kinder gewesen wären? Würden wir weiterhin nur über die effektivere Abriegelung von Grenzen statt über legale Fluchtwege verhandeln?
Weil wir nicht gar so kaltherzig seien, heißt es, gebe es ja nun den Deal mit der Türkei. Nach offizieller Lesart, um durch die massenhafte Zurückschiebung den Geflüchteten deutlich zu machen, dass sich die Überfahrt auf die griechischen Inseln nicht lohnt, um so auch die Zahl der Todesopfer zu reduzieren. Hoffentlich gelingt zumindest Letzteres. Die Geflüchteten hatten allerdings mit ihrem »Marsch der Hoffnung« mehr durchgesetzt, als ihnen die bloße Sorge um ihr Leben zugestehen will. Sie haben 2015 in größerer Zahl als je zuvor mit den Füßen abgestimmt und als weniger privilegierte Bürgerinnen und Bürger dieser Welt selbst entschieden, wohin sie fliehen und wo sie leben möchten.
Gerade deshalb soll es nun ausschließlich darum gehen, ihr bloßes Leben zu retten, um alle darüber hinausgehenden Ansprüche auf ein besseres Leben einmal mehr abzuwehren. Als Trostpflaster gibt es für 72.000 syrische Flüchtlinge humanitäre EU-Visa – für alle anderen gibt es das Versprechen, dass sich die Aufnahmebedingungen in der Türkei oder dem Libanon dank EU-Geldern verbessern werden. Selbst diese Zusagen wären aber ohne die Opfer und den Handlungsdruck, den die Ankunft von einer Million Geflüchteten in Deutschland verursacht hat, niemals gemacht worden.
Nein, wir sind nicht kaltherzig, wir kalkulieren nur. Die Bundesregierung plagt, dass zu wenig Abschiebungen in den Sudan, nach Eritrea oder Somalia klappen. Die EU-Kommission will deshalb die dort regierenden Diktatoren und Kriegsverbrecher mit Vergünstigungen umgarnen, damit sie Flüchtlinge aus ihren Ländern wieder zurücknehmen, wenn sie aus der EU abgeschoben werden. Das belegen vertrauliche Dokumente, die die Öffentlichkeit eigentlich nicht hätte sehen sollen. Denn diese Pläne wirken doch allzu – nun ja – kaltherzig.
Nein, wir behandeln »Menschen in Not« nicht »mit Anstand und Mitgefühl«, wie Seibert bei der Verurteilung der Ausschreitungen gegen Flüchtlinge in Deutschland behauptete. Das gilt insbesondere auch für die Europäerinnen und Europäer, die auf der untersten Stufe der sozialen Skala Europas stehen – die ärmsten und am häufigsten diskriminierten. Diese behandeln wir weder mit Anstand noch mit Mitgefühl. Wir schieben sie ab. Und zwar ins Elend. Wir klopfen uns neuerdings dafür auch noch öffentlich auf die Schultern – von der CDU/CSU über die SPD bis zu den GRÜNEN.
Die Abschiebezahlen steigen – etwa 22.000 waren es im vergangenen Jahr. Ein Großteil betrifft Roma, die in den Kosovo oder nach Serbien und in die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien abgeschoben wurden. Und wir bieten diesen Menschen weiterhin keine realistische Alternative zur Asylmigration, damit sie wenigstens die Chance erhalten, durch reguläre Arbeitsmigration ihre Lage aus eigener Kraft zu verbessern.
Diejenigen Menschen, die wir noch nicht abschieben können, halten wir dank der jüngsten Asylrechtsverschärfungen in Aufnahmeeinrichtungen fest. Die sollen da nicht raus dürfen. Der BundesRomaVerband fragt, ob es unser Ernst ist, anno 2016 in Deutschland Roma-Lager zu betreiben, als ob nichts dabei wäre. Und fast niemanden interessiert’s. Eine Stunde lang konnte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Talk mit Anne Will als die Humanistin ohne Alternative präsentieren. Kein einziges Wort verlor sie über die menschlichen Kosten, die ihre verschärfte Abschiebepolitik produziert – aber auch keine einzige Frage wurde ihr in diese Richtung gestellt.
Nein, wir hassen nicht. Wir kalkulieren nur. Bundesinnenminister Thomas de Maizière findet, dass Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, nicht mit Gewalt und Hetze empfangen werden dürfen. Auch wenn der Schutz am Ende nicht gewährt werden kann. Wir schieben ab, aber ohne Hass.
Die moralische Debatte über die Temperatur unseres Herzens ist eine Falle. Sie verengt unseren Blick auf den menschlichen Aspekt. Sie lässt uns nicht nüchtern denken. Die Geflüchteten haben eine Forderung auf die Tagesordnung gesetzt, die wir zu ignorieren versuchen. Die Zeit ist reif, legale Migrationsmöglichkeiten in die EU jenseits des Asylrechts zu schaffen. Das könnte die gefährlichen Überfahrten verhindern. Das könnte auch die irreguläre und chaotische Einwanderung ersetzen. Die EU schreibt das zwar ab und zu gerne in ihre Papiere – doch umgesetzt wird davon fast nichts. Wir führen nicht einmal eine offene und öffentliche Debatte darüber.
Ja, unser Herz ist kalt, aber hätten wir doch wenigstens auch einen kühlen Verstand. Die Neunziger werden sich wiederholen. Auch damals sind viele Menschen trotz aller Gesetzesverschärfungen gekommen und geblieben. Wenn wir aus der Vergangenheit lernen wollen, sollten wir heute dafür wenigstens bessere Regeln schaffen.