Neulich. Da sitzt du auf einem Stuhl in einem kleinen Museum in einer Kleinstadt im Norden des Landes und überlegst: Vielleicht solltest du das lassen, so von Nord nach Süd und zurück zu fahren. Ohne einen Grund, den du deinem Gegenüber in einem Gespräch erklären könntest. Denn: Einfach so zu fahren, um unterwegs zu sein, das weißt du, das ist unglaubwürdig.
Und drei Wochen später, da steigst du doch wieder in einen Zug ein und rollst in den Süden. Und du bleibst einen Tag. Eine Nacht und noch einen Tag und fährst am Abend in Richtung Osten, bis in die Stadt, in der du aufgewachsen bist. Und du bleibst über Nacht. Um am nächsten Tag mit deinem Vater weiter in den Osten zu fahren. Bis in eines der scheinbar ungezählten böhmischen Nester, die aber größer als die böhmischen Dörfer sind, von denen viele Menschen immer wieder zu erzählen wissen. Ihr fahrt also bis in eines dieser böhmischen Nester, auf deren Marktplatz eine Pestsäule steht.
Vater und du, ihr seid selten zu zweit unterwegs. Manchmal, als du noch ein Kind bist, da fahrt ihr mit dem Fahrrad die Rainwiesen oder andere kleine Pässe in der Böhmischen Schweiz hinauf und rollt dann mit fünfzig oder sechzig Sachen wieder runter. Doch seit du nicht mehr zu Hause wohnst, passiert es selten, dass ihr Zeit nur für euch habt.
Manchmal bringt er dich zum Bahnhof oder holt dich ab, einmal auch aus einer Kleinstadt in der Slowakei, in der du ein Stipendium hast. Er holt dich in der Slowakei ab, weil er den Osten, der eigentlich die Mitte des Kontinents ist, sehr mag. Das heißt, vielleicht ist mögen das falsche Wort, du hast keine Ahnung, und zwar ganz so, wie vermutlich viele Söhne keine Ahnung haben, warum ihre Väter etwas mögen oder nicht. Ja, vielleicht interessiert diese Mitte Europas, die überall der Osten genannt wird, ihn ganz einfach. Und wie das so ist mit dem Interesse, es ist zufällig irgendwann einmal da. Und dann wächst es immer weiter. Warum auch immer. Also sagst du vor ein paar Tagen zu ihm am Telefon: Komm doch mit in eines dieser böhmischen Nester.
Du weißt nicht, was er da genau sucht, doch er sucht etwas mit seinem Smartphone in der Hand. Wahrscheinlich eine Kneipe oder einen Geocache. Er ist alt geworden, denkst du und, du selbst aber auch. Und vielleicht, ja, sehr wahrscheinlich ist das auch gut so. Und du lächelst, während du beobachtest, wie er über den Marktplatz läuft und die Pestsäule studiert und die Händler die ersten Kisten einpacken und nebenbei der letzten Kundschaft für heute noch etwas Obst, Gemüse und Dill verkaufen.
Weil es zu regnen beginnt, geht ihr in die nächstbeste Kneipe, die nach einer böhmischen Kneipe aussieht, aber keine richtige böhmische Kneipe zu sein scheint, also esst ihr jeder einen Salat und trinkt zwei Pilsner und unterhaltet euch über Elektroautos, über das Problem der Entsorgung der Akkus und über Solaranlagen, obwohl ihr keine Ahnung habt von Elektroautos und einem möglicherweise wachsenden Problem der zu entsorgenden Akkus und auch nicht von Solaranlagen.
Als Vater auf der Toilette verschwindet, schaust du dich um im Raum, ihr seid noch immer die einzigen Gäste hier. Durch das Fenster hindurch beobachtest du die Menschen, die in ihren Autos sitzen und im Stau stehen. Und du überlegst, worüber ihr euch unterhalten werdet, wenn Vater zurückkommt, ob es Momente der sprichwörtlichen Wahrheit geben kann zwischen Vater und dir, also selbstverständliche Gespräche: darüber, wer wir sind und weshalb wir sind, wie wir sind, und was wir sind, was wir vielleicht einmal sein wollen. Oder ob wir ganz einfach Vater und Sohn sind.
Draußen. Es regnet noch immer, und da ihr keine Lust habt, nass zu werden, beschließt ihr, euch die Synagoge anzusehen. Ihr habt Glück, denn die Synagoge, die die ehemalige Synagoge der Stadt und heute ein Museum ist, wird erst in reichlich zwei Stunden geschlossen. Nicht, weil die Sonne bald untergeht und der Šábes beginnt, nein, der Šábes ist in Böhmen einerlei. Wichtig ist, hoch die Hände, Wochenende. Denn es ist Freitagnachmittag.
Und während du vor der Bima stehst, bist du dir sicher, ihr werdet später am Abend noch einen oder zwei oder drei Geocaches suchen, vielleicht auch am Ufer der Elbe entlangspazieren, ganz einfach, weil es herrlich ist, im Herbst an der Elbe spazieren zu gehen und anschließend von einer Kneipe zur nächsten zu wechseln. Und irgendwann wirst du einen Smazak und Vater eine Pikantní klobása bestellen. Und während ihr euch über die Kriege und Auseinandersetzungen in der Welt unterhaltet, von deren Bedeutung ihr nur eine Ahnung habt, über seine und über deine Arbeit, über die gut gefüllten Kneipen in dieser kleinen Stadt hier und ihr schließlich darüber spekuliert, was die tobenden Teenager und die wenigen Erwachsenen, vermutlich ihre Lehrer, da in dem Raum nebenan gerade feiern, da du wirst dich wundern, wie viele Pilsner du verträgst und dass Vater dich fragen wird, noch eins? So, als wärt ihr selbst wieder Teenager, die viel zu viel Bier trinken, ganz einfach, weil sie es können. Und dann wirst du dich irgendwann schlafen legen, um am nächsten Vormittag, Vater wird dich zum Bahnhof bringen und anschließend zurück nach Hause fahren, wieder in einen Zug zu steigen und immer weiter in den Osten zu rollen.