Vor einigen Wochen. In Šamorín, das du erst seit ein paar Tagen Somorja nennst, steige ich mit zwei weiteren Personen aus dem Bus aus. Niemand steigt ein, und ich zweifle für einige Sekunden, ob ich hier richtig bin, und sehe, wie die beiden Personen hinter dem Bahnhofsgebäude verschwinden, und beschließe, ihnen zu folgen.
Es ist Montagnachmittag. Der Erste Mai. Und ich habe das Gefühl, ich bin der einzige Tourist, der je an diesem Busbahnhof ausgestiegen ist. Und ich muss an die Lautsprecher denken, die in meiner Erinnerung in jeder tschechischen Stadt und in jedem tschechischen Dorf an einem oder mehreren Laternenmasten der größeren Plätze und Straßen angebracht waren und knarzend etwas verkündeten, eine Sirene aufheulen ließen oder Marschmusik spielten. Mein Blick findet hier keinen dieser Lautsprecher, und ich überlege, für wie viele Menschen Tschechien und die Slowakei noch immer ein und dasselbe Land sind und wie lange es gedauert hat, bis sich die neuen, alten Grenzen in den Köpfen verfestigt haben, oder ob sie überhaupt existieren.
Der erste Mensch, den ich dann sehe. Ein hagerer Junge mit einem viel zu großen Basecap auf dem in einer Art Runen-Schrift das Wort Csallóköz geschrieben steht. Er sitzt auf einem Bonanzarad, und ich frage ihn, wo die Synagoge sei. Er versteht mich nicht oder will mich nicht verstehen, und vielleicht ist mein Tschechisch auch falsch oder meine Aussprache zu schlecht. Und vielleicht ist die slowakische Sprache doch nicht – mit ein paar Abstrichen, wie ich immer dachte – gleichzusetzen mit dem Tschechischen.
Ich bedanke mich und gehe weiter. Als ich noch einmal zurückblicke, sehe ich, dass er mir ebenfalls hinterherschaut und schließlich in die Pedale tritt.
Ich laufe weiter in Richtung Zentrum, und mir fällt auf, dass diese Stadt fast ausschließlich aus Fünf- und Neungeschossern zu bestehen scheint. Im Wechsel folgen Blocks auf Grünstreifen auf Garagenkomplexe auf Blocks auf Grünstreifen und so weiter. An beinahe jedem Laternenmast hängen überdimensionierte Schilder, die in ungarischer und slowakischer Sprache erklären, dass das Parken fünfzig Cent die Stunde kostet und ausschließlich per SMS gezahlt werden könne.
Hinter den Blocks verstecken sich teilweise ältere Gebäude, die einmal das Wesen der Stadt geprägt haben müssen. Šamorín zählt heute, das ist eines der wenigen Dinge, die ich über diese Stadt weiß, um die 14 000 Einwohner und muss vor dem großen Umbau, der wie in vielen tschechischen und slowakischen Städten sicherlich irgendwann in den 1960er-Jahren begann, wesentlich kleiner gewesen sein.
Vor dem Kulturhaus hängt ein zweisprachiges Plakat, auf dem die derzeitige Ausstellung über die gewesene, die alte Stadt beworben wird. Die Abbildung dieses Teils der alten Stadt gefällt mir, oder zumindest glaube ich, dass sie mir gefällt.
Es ist eine sonderbare Anziehung, die von Orten ausgeht, nein, nicht von den Orten, vielmehr von den Menschen, die sich vordergründig über die Vergangenheit der Stadt oder des Dorfes oder der Gemeinde, in der sie wohnen, definieren. Eine Anziehung, die je kräftiger sie ist, zugleich auch abstoßend auf mich wirkt. Es sind dann wohl meist die Geschichten und immer wieder auch die Geschichte, die sie mir und anderen Menschen erzählen, die Eindrücke und Bilder im Kopf entstehen lassen. Und die Geschichte, habe ich einmal irgendwo gelesen, soll nicht nur in der Zeit spielen, sondern auch im Raum. Und es ist scheinbar egal, denke ich, wo du bist, die Bewohner einer Stadt, ganz gleich wie groß sie ist, brauchen die Träger einer eigenen wie auch immer ausgestalteten kulturellen Vergangenheit, an die sie glauben können, Träger, die einen Sinn ergeben und mehr noch ein kollektives Identifikationsangebot unterbreiten.
Ich habe kein Zeitgefühl und keine Ahnung, wie lange ich bereits vor diesem Plakat stehe, und bestimmt bin ich auch alles andere als unauffällig mit meiner Kraxe auf dem Rücken. Auf diesem menschenleeren Platz. Am Nachmittag des Ersten Mai. Und ich würde sehr gerne rauchen, doch ich rauche nicht. Auch würde ich gerne etwas trinken, doch ich trinke nichts. Ich drehe mich ganz langsam einmal um mich selbst und versuche nur zu schauen, und bekomme etwas Angst vor dem Nichtstun, dem Einfach-nur-hier-Sein. Und ich überlege, warum ich solche Orte mag. Und was das überhaupt heißt, solche, und warum ich scheinbar zwanghaft immer wieder nach diesen Solche-Orten suche, sie schließlich auch finde.