Usedom. Erster Juni, internationaler Kindertag, und auch wenn es erst kurz vor sieben Uhr ist, ist es doch ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit, und der nasse Sand verfängt sich zwischen meinen Zehen, den Fußsohlen und dem Gummi der Flipflops. Vor mir liegt also der klamme Strand und dahinter das Meer und der Horizont. Links und rechts bewachsene Dünen. Ich bleibe an einem Ticketautomaten stehen, der hier wie ein Fremdkörper wirkt, und überlege, bis nach Karlshagen zu laufen, bis zu den Neubaublocks, deren Balkone nicht zum Meer, sondern auf die Insel zeigen.
Ostsee, das bedeutet für mich Kindheit, genau wie diese Neubaublocks, obwohl die Ostsee in meiner Kindheit gar nicht stattfand und ich in einem Altbau aufwuchs, an dessen Fassade deutlich zu erkennen war, wo sich die Luftschutzbunker während des Krieges befunden haben.
Mit vierzehn war ich das erste Mal an der Ostsee. Wir waren nicht baden, und wir waren auch nicht an irgendeinem Strand. Wir spazierten mit den Freunden meiner Eltern und Freunden von Freunden und so weiter durch Travemünde. Warum Travemünde, weiß ich nicht, ich weiß aber, dass ich damals dachte, das ist also die Ostsee. Da hatte sie bereits aufgehört ein Ort der Sehnsucht zu sein.
Ein zweites Mal kam ich her, da war ich bereits einundzwanzig. Irgendwo bei Jurmala, dem Strandbad nahe der Stadt Riga, hielt ich meine Winterjacke geöffnet, als wollte ich die Kälte umarmen, als wollte ich sie einfangen, und rannte hinaus auf das gefrorene Wasser, und der Wind zog mich über das Eis. Und wieder dachte ich, das ist also die Ostsee. Und erst mit den Jahren nahm die Baltic Sea, wie die Ostsee in Gesprächen meist genannt wurde, denn ich führte Gespräche über die Ostsee nur selten in deutscher Sprache, mit Besuchen an der polnischen und der baltischen und der dänischen und der schwedischen, aber auch der deutschen Küste zusätzliche Konturen an.
Vor nicht ganz einem Jahr wurde meine Vorstellung von der Welt erschüttert, als ich mir am Strand von Pelzerhaken erklären ließ, dass es normal sei, ein Ticket für den Strand zu ziehen. Als wäre man ein PKW, der hier parken würde, dachte ich und schüttelte den Kopf, ohne dass jemand es sah. Denn einmal mehr musste ich als erwachsener Mann feststellen, bisher in einer Parallelwelt gelebt zu haben.
Zwei Euro zwanzig kostet die Tageskarte. Für die Benutzung der Toiletten und die Instandhaltung des Strandes, erklärt mir ein Aufkleber, der neben dem Münzschlitz am Automaten angebracht ist. Natürlich gehe ich ohne ein solches Ticket am Strand spazieren. Der Strand gehört allen, würde ich in mein Notizbuch schreiben. Und mich in ein paar Jahren über einen solch naiven Satz freuen, vielleicht würde ich mich auch über mich selbst wundern, wer ich – der ich in diesen Zeilen überdauert habe – einmal war, und vielleicht würde ich auch einfach nur müde lächeln. Doch ich habe mein Notizbuch vergessen.
In Lauterbach auf Rügen, ich möchte einen Wanderweg, den Pfad der Muße und Erkenntnis, entlanglaufen, stehe ich vor einem Stein, auf dem dieselben Worte geschrieben sind wie auf einer Gedenktafel am Straßburger Platz in Dresden, der in meiner Kindheit ausschließlich Fučíkplatz genannt wurde: Menschen, ich hatte euch lieb. Seid wachsam. Damals habe ich nicht begriffen, was mir diese Worte sagen sollten, und auch nicht, warum sie dieser Julius Fučík gesagt hat. In meiner Erinnerung vermischen sich die Bilder einer schneebedeckten Straße mit Bildern von Menschen, die von den Balkonen ihrer Neubaublöcke auf mich herabsehen, und Jungs mit Glatzen und Bomberjacken und Männern mit Schnurrbärten und Vokuhilafrisuren, die sich auf den Weg ins Stadion machen, und zahlreichen gelb- und orangefarbenen Tatrabahnen und dem Grau der endlos erscheinenden Oberfläche des Ausstellungszentrums, der Pioniereisenbahn, die am Bahnhof einfährt, einer Kaufhalle und den Kakteen des botanischen Gartens. All diese Bilder tauchen nahezu gleichzeitig auf, wenn ich den Namen Fučík höre, und ich lese, dass dieser Stein den Opfern des Faschismus gewidmet ist, die als Häftlinge des KZ Stutthof hier Ende April, Anfang Mai 1945 nach der Zwangsevakuierung ermordet wurden.
Wir sitzen vor dem Holzschiff des Spielplatzes hinter dem alten Badehaus Goor und angeln. Ich habe keine Ahnung davon, also beobachte ich KH, wie er die beiden Angeln auswirft und das Geländer mit ihnen drapiert. Wir trinken Bier und reden über das Reisen, den Sommer und das Reisen in den vergangenen Jahren. Und wir lassen immer wieder längere Pausen und dann das Wasser auf uns wirken. Und das Zirpen der ersten Grillen. Und das letzte Licht des Abends quält sich, als wären wir schon in den weißen Nächten irgendwo in Schweden, und wir schauen einem Boot hinterher, das langsam den kleinen Hafen ansteuert. Gelächter und Musik kommen herübergeweht, und ich glaube, drei Stimmen herauszuhören. Zwei sind mehr als nur betrunken. In dem Film Himmel über der Wüste reisen die drei Amerikaner Port, Kit und George von New York nach Tanger, um von dort aus die Wüste zu durchqueren, und ich muss daran denken, wie Kit betont, dass sie Reisende und keine Touristin sei. Ich glaube die drei, die da auf dem Boot vor der Insel Vilm entlangschippern, denken nicht darüber nach, sie sind einfach unterwegs und genießen ihre Zeit. Hörbar. Wahrscheinlich laufen sie jeden Abend oder jeden zweiten einen ähnlichen Hafen wie diesen an und müssen sich nicht in Relation setzen zu den Orten, die sie besuchen. Ihre Relation ist das Wasser und der Wind, der sie weiter vorantreibt oder sie dazu bringt, den Motor anzuwerfen, um schließlich doch spätestens am Abend in einem der sich gleichenden Häfen der sich gleichenden Orte entlang der Ostsee vor Anker zu gehen. Vor Anker zu gehen, das klingt nach großen Worten mit dem Geschmack voll der Sehnsucht eines Kindes, denke ich. Mittlerweile ist es dunkel geworden, also packen wir zusammen, einen Fisch haben wir gefangen, die anderen waren zu klein, also haben wir sie wieder ins Wasser gelassen, und machen uns auf den Rückweg.