Ein zwei mal zwei Meter großes Zimmer in einem Hostel in der Nähe des Heldenplatzes. Ich bin, wie so oft, auf der Durchreise nach Rumänien. Es ist der 23. Oktober, in Ungarn ein Nationalfeiertag, der an den Volksaufstand aus dem Jahr 1956 erinnern soll. Vor meinem Fenster sitzt eine Gruppe Arbeiter, die ebenfalls im Hostel übernachten. Sie trinken Bier und unterhalten sich.
Ich skype mit meinem besten Freund, dessen Großmutter, eine halbe Stunde bevor er sie besuchen wollte, heute im Krankenhaus verstarb. Wir unterhalten uns lange. Wir sagen oft vielleicht, aber wir sagen nicht, es ist besser so. Wir sagen nicht, dass sie wenigstens nicht lange leiden musste. Wir sagen es nicht, weil: Wir wissen es nicht.
Er fragt, wie es in Budapest ist.
Ich sage, dass es komisch klingt, aber mir die Stadt die Luft zum Atmen nimmt, dass es von Besuch zu Besuch, auch wenn jene Besuche nur kurz sind, immer beklemmender wird, dass das aber gerade nicht so wichtig ist.
Er fragt, woran das liegt.
Ich sage, ich weiß es nicht, wüsste es aber gern.
Er fragt, was ich heute gemacht habe.
Ich sage, ich war spazieren, habe Fotos gemacht und einen Mann beobachtet, der wie auf Drogen Aufkleber und Flyer von Laternenmasten und Stromkästen entfernte. Der war gruselig, sage ich. Dass aber trotzdem noch überall Fidesz- und Jobbikplakate hängen würden. Und Aufkleber mit der Aufschrift Wir hassen Rumänien. Und dass Nationalfeiertag ist, sage ich. Aufstand sechsundfünfzig. Dass ich selten so viel Polizei gesehen habe. Und dass ich dachte: Feiertag und Demonstrationen, das passt, Demonstrationen für und gegen das Orbán-Regime. Vor der Oper standen so viele Uniformierte, dass ich mich schließlich bei einer Gruppe älterer Polizisten erkundigte, ob hier eine Demonstration stattfinden würde, woraufhin ich mich auszuweisen hatte und der Inhalt meiner Tasche untersucht wurde.
Ist es deswegen?, fragt mein Freund.
Nein, sage ich, es ist die gesamte Stimmung, alles wirkt – aber schon seit Jahren – so grau, und vielleicht ist jedes Mal zufällig schlechtes Wetter, vielleicht auch die politische Situation, ja, vielleicht auch die Großstadthektik, was auch immer das sein soll, vielleicht auch alles zusammen, ich weiß es nicht, auf jeden Fall: Die Menschen lachen nicht mehr.
An einem Info-Stand für Touristen fand ich heraus, dass am Sonntag eine Großdemonstration gegen die neue Internetsteuer geplant ist, die eine weitere wesentliche Einschränkung für eine freie Kommunikation darstellen würde, und dass Orbán heute Abend vor der Oper eine Rede halten wird.
Und gehst du hin?
Nein, natürlich nicht, sage ich, obwohl ich gehört habe, dass immer, wenn er eine Rede hält, zuvor der Song Listen to your heart gespielt wird.
Listen to your heart von Roxette?
Ja, glaube schon.
Eigentlich ist das lustig, denke ich, doch wir lachen beide nicht und verabschieden uns. Und ich ziehe mich an, weil ich noch eine Runde spazieren gehen, vielleicht noch ein Bier kaufen will.
Als ich zum Hostel zurückkomme, setze ich mich zu den zwei verbliebenen Arbeitern. Dragan und Ivitza. Sie sind aus Belgrad und arbeiten seit Jahren zusammen – Dragan könnte Ivitzas Onkel sein – und restaurieren die Inneneinrichtung der Serbischen Botschaft. Sie zeigen mir Fotos von ihrer Arbeit an den Möbeln und Türen des Hauses. Und wir unterhalten uns über Zwangsmigration. Über Zigarettenpreise, über Jugoslawien. Über Kriege auf dem Balkan. Über Religion, den Tod und über Freundschaft.
Dragan fragt, wie ich die Stimmung in Ungarn und in Budapest finde.
Ich atme übertrieben schwer aus, und noch bevor ich antworten kann, fügt er hinzu: Wir sind ein wenig durch die Stadt gelaufen, weil Feiertag ist, und es ist erschreckend, wie düster – no soul, you know – alles wirkt. Wir haben uns bereits den gesamten Tag darüber unterhalten. Verstehen es aber nicht. Gerade auch, weil wir viele ungarische Freunde in Serbien haben, die das absolute Gegenteil und Freude am Leben ausstrahlen.
Ich sage, ich weiß es auch nicht, aber vielleicht haben die hiesigen Ungarn ihr Lachen verkauft.
Und Dragan hebt wie zur Bestätigung den Zeigefinger seiner linken Hand und nickt Ivitza zu.
Ja, sagt Ivitza, vielleicht haben sie ihr Lachen verkauft, doch was haben sie dafür bekommen?
Genau ein Jahr später. Mein bester Freund sitzt mir gegenüber und einmal mehr, vielleicht ist das auch das letzte Mal zusammen, sitzen wir im Zug von Budapest nach Rumänien. Wieder im IC Transsylvania, wieder im Waggon Nummer 433. Und wieder ist es der 23. Oktober. Ich bin froh, nicht allein zu reisen.
Er sitzt mir gegenüber, und ich weiß nicht genau wann, aber wir haben aufgehört uns zu unterhalten. Über Vertrautes und Veränderungen, Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Ohnmacht und die in den letzten zwölf Monaten – vielleicht sind es auch schon anderthalb Jahre oder noch länger, ich weiß es nicht – viel beschworenen Ängste und Sorgen. Wir haben weder einen Anfang noch ein Ende in den Gesprächen gefunden. Erst recht keine Antworten, und weil es sehr erschöpfend ist, haben wir irgendwann angefangen zu schweigen.
Wir lesen in unseren Zeitungen und Büchern, schauen hin und wieder in die uns bekannten Landschaften, die sich da draußen an der Fensterscheibe vorbeischieben. In den vergangenen Jahren sind wir oft zusammen verreist. Wir hatten sogar einen kleinen Blog eingerichtet, auf dem wir Eindrücke hinterließen und kurze Videos, wie man bei 45° Celsius in einer ukrainischen Marschrutka überlebt oder einen monsunartigen Regenguss in Bulgarien oder ein gefaktes Erdbeben in einer georgischen Kathedrale. The two Saxonboyz stand im Titel des Blogs. Warum? Weil wir dort zuhause sind, und weil wir einmal dachten, Sächsisch könne mehr bedeuten als eine hässliche Fratze, die sich nur allzu oft mit ihren tief sitzenden Falten voll Hass zu erkennen gibt. Der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 2013: We are free from blame of people smuggling!, steht da geschrieben. Grammatikalisch sicher nicht ganz korrekt, doch das war uns egal. Wir wurden freigesprochen, uns als Menschenschlepper betätigt zu haben. Menschenschlepper hießen im deutschen Sprachraum einmal Fluchthelfer. Aber das ist lange her, und was lange her ist, wird gerne auch mal vergessen.
Der Zug fährt so langsam durch die Banater Ebene, dass uns bald die Stockente, die uns seit einigen Minuten begleitet, mit schnellen ausdauernden Flügelschlägen zu überholen scheint. Die Blätter der Bäume in dem Wald weiter drüben sind so bunt, als wären sie von Kindern bemalt worden. Hier und da tauchen kleine Häuser auf, um genauso schnell wieder aus meinem Sichtfeld zu verschwinden.
Später. Die untergehende Sonne färbt ein Wolkenfeld erst in ein kräftiges Orange. Dann wechseln sich rote und blaue Nuancen ab, bis sich alles zwischen purpur- und rosafarbenen Farbspektren einpegelt, und ich frage mich, wohin die Leichtigkeit und unsere Unbeschwertheit verschwunden sind.