#01
Wenn du in Beijing,
das du erst seit Kurzem nicht mehr Peking nennst,
vor dem Bahnhofsgebäude stehst,
nimmst du dein Gepäck von den Schultern,
hockst dich zu den anderen, die bereits in der Hocke sitzen,
und schaust dich um, bevor du die nächste Entscheidung triffst.
Nimmst dir Zeit und zählst, schätzt und rundest auf,
auf ein oder zwei oder drei mal zwanzig mal zehn mal zehn,
und vielleicht sind es noch ein paar mehr Menschen, die hier warten.
Du kaufst ein Ticket am Schalter, wenn du den richtigen gewählt hast.
Du stellst dich an, dein Ticket kontrollieren zu lassen.
Du stellst dich an, dein Gepäck und dich selbst kontrollieren zu lassen.
Und dann, in der Bahnhofshalle, wartest du mit weiteren hundert mal zehn und vielleicht noch ein paar mehr Menschen, und passt dich dem Bewegungsfluss an. Du versuchst, hinzuhören, herauszufinden, was jetzt passiert.
Bis schließlich fünf Minuten vor der Abfahrt des Zuges ein Absperrband gelockert wird und die Hektik in den Augen der anderen deinen Nacken kitzelt und deinem Herzschlag einen Boost verpasst und ihr alle zusammen die Treppen nach unten und wieder nach oben rennt bis zum Gleis Nummer vier, und erneut dein Ticket am Eingang des Waggons kontrolliert wird, und du an den Platz mit der Nummer kommst, die auf deiner Fahrkarte steht, auf dem bereits ein junger Chinese sitzt und lächelt, und der Zug mit zehn Minuten Verspätung langsam Fahrt aufnimmt.
#02
Fünf Jugendliche stehen am gegenüberliegenden Rand des Platzes vor dem Bahnhofsgebäude in Datong und rauchen. Auch ich zünde mir eine Zigarette an, der Rauch brennt in den Augen.
Und drei Fahrzeuge, die in Europa beinahe geräuschlos über Golfplätze schleichen würden, halten und spucken Männer in Uniformen aus.
Ich werfe meine Zigarette auf den Boden, trete sie aus, frage mich, ob ich sie besser wieder aufhebe, und suche mit zusammengekniffenen Augen den jetzt menschenleeren Platz nach einem Papierkorb ab.
#03
Die Mauer, die Große, am Rand einer Kleinstadt ohne Namen, wir nennen sie Xin’rong, ist schwer zu beschreiben. Ein oder zwei, vielleicht auch drei Kilometer sind wir auf der Mauer entlanggelaufen, ohne dieses Tamtam im Kopf, das herumsaust, wenn man »Große Mauer« hört, ja, so als würden wir durch einen Park oder einen Wald spazieren.
An manchen Stellen ragt sie nur einen Meter über die angrenzenden Müllkippen und die Wege, die ins Nirgendwo zu führen scheinen, überragt die kleinen Felder und Gärten, in denen fast immer Mais angebaut wird. Und soweit wir verstehen können, ich glaube nicht, dass wir behaupten können, etwas richtig zu verstehen, scheinen die Menschen kein Interesse an diesem Lehmwall zu haben, der auf einem Hügel hinter ihrer Stadt verläuft. Die Menschen lachen und wollen uns nach Badaling schicken. Dort soll sie stehen, so sagen sie, die Große Mauer. In Badaling, ja, da waren wir bereits, und wir wissen nicht, wie wir das erklären sollen, ohne noch mehr Zweifel in dieser Kleinstadt ohne Namen, die wir Xin’rong nennen, zu hinterlassen, und nicken und steigen in den Bus und fahren zurück nach Datong.
#04
In den Bergen schlafen wir nachts immer draußen oder in unseren Zelten auf den eingezäunten Weiden und Wiesen der Bauern, die fast ausschließlich Tibetisch sprechen, denn der Jeep wäre für uns viel zu klein und unbequem.
#05
Seit Tagen bewegen wir uns konstant zwischen dreitausend und dreitausendfünfhundert Metern über dem Meeresspiegel. Seit Tagen sehen wir die Berge und manchmal auch etwas Schnee auf den Gipfeln am Horizont. Die Namen der Berge kennen wir nicht. Auch die Namen der Schluchten nicht, oder die der Dörfer und der kleinen Städte, durch die wir kommen.
#06
Die Tibeter, die uns entgegenkommen, sitzen auf Pferden und Eseln, wenn nicht, fahren sie fast immer Motocross-Bikes, und sie tragen lange lederne Mäntel oder bunte Wickelkleider und Bluejeans, einen Helm oder einen Turban. Aber immer sind sie vermummt.
#07
Die Geheimnisse, also all das, was da draußen an uns vorbeizieht und von uns ungesehen bleibt, werden größer, je länger wir unterwegs sind.
#08
Einmal sammeln wir Holz. Wir wollen es besser machen, ein richtiges Feuer, eines das wärmt, in das wir unsere Träume spucken können, nachdem wir an einem kalten Morgen Tage zuvor versuchten, das haben wir uns bei den Tibetern abgeschaut, ein Feuer mit Dung zu entfachen, um uns einen Tee und einen Kaffee zu kochen.
#09
Wir wissen jetzt: Bereits ab dreitausendsiebenhundert Metern ist es schwierig, sich eine Zigarette mit dem Feuerzeug anzuzünden. Ab viertausendzweihundert bekommen wir Kopfschmerzen, manchmal auch schon vorher. Die Maschine des Jeeps tuckert und die Tibeter überholen uns mit ihren Motocross-Bikes mühelos. Und wir wundern uns nicht mehr, dass noch auf über zweitausend Metern Höhe Getreide angebaut wird. Und Raps.
#10
Jeden Morgen, an dem wir aufbrechen, denken wir nicht eine Sekunde, unsere Reise sei ein Wagnis. Wir sind uns sicher, wir erreichen jeden Abend unser Ziel, auch wenn wir dies selbst noch gar nicht kennen.
#11
Die Pässe in den Bergen sind mit Tüchern in verschiedenen Farben geschmückt, auf denen fast immer Gebete und Sprüche stehen, die wir nicht lesen können. Manchmal sind sie auch verknotet an den Geländern der Brücken, die wir queren, und in den Sträuchern der Flusshänge oder der Täler, die sich unter uns erstrecken. Wir denken dann oft daran, eines dieser bunten Tücher als Andenken mitzunehmen.