Gehen wir spazieren, kommen wir immer an Baustellen vorbei. Immer und überall wird etwas gebaut. Wir beobachten den Kran, wenn er sich bewegt, und wir beobachten den Baggerfahrer, der den Bagger fährt und die Schaufel steuert. Manchmal staunen wir. Noch vor einem Jahr wusste ich nicht, was ein Raupenbagger sein soll. Jetzt kenne ich fast alle Namen der Baufahrzeuge.
Die Nummernschilder der Autos ähneln sich. Die Kombinationen zeigen fast immer die Buchstaben P bis Q nach dem Bindestrich. Das heißt, die meisten Autos, die hier am Straßenrand stehen, wurden in den letzten zwei, drei Jahren zugelassen. Unser Viertel ist ein Viertel von Zugezogenen.
Am späten Abend: Ich betrete das Hotel, in dem ich ab und zu als Nachtportier arbeite. Ein schönes Wort ist das, Nachtportier, und ich mag es, zu sagen, ich bin ein Nachtportier. Viele Menschen haben dann, ich sehe es ihnen förmlich an, sofort ein eigenes Bild vor Augen. Bestimmt denken sie, ich trage einen eigenartigen Hut auf dem Kopf und warte an der Tür auf die Gäste des Hotels.
Heute sind keine Gäste im Hotel. Und es reist auch niemand mehr an. Ich bin allein. Alle Betten, es sind mehr als einhundert, in allen Zimmern sind nicht belegt. Ich arbeite seit ein paar Jahren in diesem Hotel und habe noch nie eine Nacht schlafend hier verbracht, und vielleicht werde ich mich später für ein oder zwei Stunden schlafen legen.
Später. Die Zukunft ist in der Gegenwart angelangt, und Worte wie Webinar oder Webkonferenz oder Lockdown oder Homeoffice oder Sind-dort-viele-Menschen bestimmen die Hitlisten der sich erweiternden Wortschätze. Ich bin schon wieder in dem Hotel. Und die Stille ist wirklich überall. Sie legt sich selbst über das Geräusch der bremsenden Straßenbahnen und über die Motoren der Autos vor der Tür, lässt die wenigen Menschen, die ich tagsüber auf den Fußwegen oder im Park sehe, verstummen.
Ich weiß nicht, warum. Doch seit über einer Woche schaue ich mehrmals täglich im Netz nach, wie viele Menschen sich mit dem Virus infiziert haben, wie viele Menschen gestorben sind. Und ich vergleiche die gemeldeten Zahlen der Länder und die Prognosen. Ob sich die Zahlen verdoppeln innerhalb von zwei, drei oder mehr Tagen. Und das passiert so selbstverständlich, wie ich Kirchen aufsuche und Moscheen und Synagogen, falls es noch welche gibt, in den Städten und Dörfern, die ich im Urlaub oder auf Reisen besuche. Hier zu Hause gehe ich selten in eine Kirche oder in eine Moschee oder in die Synagoge.
Ebenso selbstverständlich errechne ich die Lebensdaten verstorbener Menschen, die auf ihren Grabsteinen geschrieben stehen, wenn ich über Friedhöfe laufe. Und dann kommt immer irgendwann dieser Punkt, an dem ich mich frage, während ich im Kopf die Lebensdaten abgleiche, und ich bin sehr schnell im Kopfrechnen, wirklich, ob das schon Anzeichen von Neurosen, wenigstens aber einer kleinen Macke sind.
Im Osten der Stadt hängen jeden Tag mehr Bettlaken an den Fenstersimsen. Auf den Laken steht etwas von Solidarität, und häufig wird gefordert, das Camp Moria zu schließen, die Grenzen zu öffnen. Und ich denke an diese Betonhalle auf der Insel Chios, die den Namen Tampakika trug, wahrscheinlich wird sie noch immer so genannt, und fühle mich schlapp und hilflos. Und wir fahren nach Hause, und ich frage mich, was ich hier mache und wann ich Teil des sich einigelnden Wir geworden bin, und weiß natürlich, dass ich schon immer ein Teil von diesem großen und bequemen Wir gewesen bin, es immer sein werde, und frage mich dennoch.
Später, weder um achtzehn Uhr noch um einundzwanzig Uhr, höre ich jemanden klatschen oder singen, lese ich einen Kommentar von einem Pfleger, der in der taz u. a. schreibt: »Hört auf, den Pflegenden die Wange zu tätscheln, und kümmert euch um die alten, kranken, vulnerablen Menschen. Ja, auch die, die Europa gerade in Moria verrecken lässt …« Und weiter: »Klatscht, wenn ihr euch besser fühlt. Es ist aber völlig klar: Ihr beklatscht euch selbst, und ihr tut das öffentlich, damit jede*r von eurer Großherzigkeit erfährt. Davon, dass ihr euch besser fühlt, wird nichts gut, es macht euch nur unempfindlicher gegenüber dem Leid der anderen.«
Ich stehe auf dem Balkon und sehe auf einen Teil der Eisenbahnstraße, die seit Jahren als ein meist abwertendes Synonym verwendet wird für zwei Stadtviertel, in denen über 26 000 Menschen wohnen, die, läuft es gut in der lokalen Presse, als international bezeichnet werden. Die Stille ist einer Leere gewichen. Denke ich. Und das klingt, als wären Gedanken abgekoppelt von der Möglichkeit zu denken, als wäre da draußen und hier drinnen, und ja, wahrscheinlich sind die Übergänge heute noch verschwommener als gestern. Und ich gelange über Mark Fisher einmal mehr zu der Tatsache, dass wir, wer auch immer dieses Wir sein soll, kann und darf, ja, dass wir uns das Ende der Welt eher vorstellen können als das Ende des Kapitalismus.
Vielleicht liegt es an der Zeitumstellung, vielleicht am Wetter, vielleicht gibt es einen neuen Pegel der Normalität. Es ist Sonntag, und wir schließen um elf Uhr die beiden Haustüren auf, sind die ersten, die unser Haus an diesem Tag verlassen. Auf dem Weg bis in den Friedenspark sind wir fast allein. Dafür hängen heute noch mehr Laken an noch mehr Fenstersimsen. Auf den meisten steht #leavenoonebehind geschrieben. Meinem Sohn gefallen die Laken, vielleicht, weil sie im Wind flattern. Wären es nur zwei Laken oder drei, fände ich sie wahrscheinlich lächerlich. In der Masse jedoch gefallen sie mir auch. Und während ich versuche, das zu verstehen, und keine Antwort darauf finde, warum mir eine große Anzahl an Laken gefällt, ich ein einzelnes jedoch als lächerlich empfinde, da habe ich Angst vor mir selbst.
Nachts. Ich war schon seit einer gefühlten Ewigkeit, und das ist keine Phrase, nicht mehr nachts unterwegs. Nachts sitze ich höchstens noch auf dem Balkon und wundere mich nicht mehr, dass in Ungarn per Dekret geherrscht wird. Denn Ungarn ist nicht auf dem Weg zu einer Diktatur, wie einige Journalisten in den Überschriften ihrer Artikel verkünden, Ungarn ist eine Diktatur. Vielleicht wundert sich niemand mehr über die Diktatur in Ungarn, oder vielleicht interessieren sich zu wenige Menschen für Ungarn, oder vielleicht gibt es das, was viele Menschen, die sich für Ungarn interessieren, und einmal mit Ungarn verbunden haben, schon längst nicht mehr, ich weiß es nicht. Ich weiß, tagsüber werden die Straßen im Leipziger Osten wieder voller. Vor allem wenn die Sonne scheint, und die Sonne scheint viel in den letzten Tagen.