Am Morgen beschließt du, morgen, da fährst du zum Spazieren nach Lodz. Und all die angerissenen Geschichten, von denen du so häufig in deinem Leben gehört hast, und die Bilder, die dir gezeigt wurden, sie werden mit dir reisen. In die Stadt, die du seit Wochen fast ausschließlich Łódź nennst.
Du wirst die ulica 6 Sierpnia entlanglaufen, weil in dieser Straße eines der Wohnhäuser steht, in dem der Vater deines Vaters einmal lebte, was durchaus wichtig ist, aber dennoch keinerlei Bedeutung hat. Und du zählst nach, und du bist dir sicher, dass der 6. August der 218. Tag im Jahr ist, es sei denn, es ist Schaltjahr, dann ist der 6. August der 219. Tag im Jahr, aber das ist ja klar.
Genauso klar ist allen Beteiligten trotz der Hitze in den frühen Morgenstunden des 6. August 1861, dass die Stadt Lagos bis zum Abend von den bereitstehenden militärischen Einheiten eingenommen und zur britischen Kronkolonie ernannt werden wird. Während am gleichen Tag, ein paar Stunden und genau 35 Jahre später das französische Protektorat Madagaskar zur Kolonie umgewandelt und weitere fünf Jahre später in den Vereinigten Staaten das Land der Kiowa zur Besiedlung durch Weiße freigegeben und das Reservat der bisherigen Bewohner damit aufgelöst wird. Am gleichen Tag circa zehntausend Kilometer entfernt und wiederum 44 Jahre später drückt Paul Tibbets einen der vielen Knöpfe im Cockpit seines Flugzeuges und leitet das wohl wichtigste Wendemanöver seines Lebens ein, das erst 62 Jahre später enden wird, und entkommt so einer Druckwelle, die sofort mehrere zehntausend Menschen ein paar tausend Meter unter ihm tötet.
Doch die Menschen, die zu eben jener Zeit in der ulica 6 Sierpnia in Łódź wohnen, betrifft der Tod dieser vielen Menschen nicht vordergründig, sie haben noch nie etwas von Paul Tibbets und den Knöpfen im Cockpit seines Flugzeuges gehört, und am Tag des 6. August 1945 wohnen sie auch noch nicht in der ulica 6 Sierpnia, sondern in der Straße der 8. Armee. In dieser Straße, die fünf Jahre zuvor fast vier Jahreszeiten lang den Namen eines deutschsprachigen Kanzlers – Bismarck – trägt und zwischen den Jahren 1919 und 1940 bereits 6 Sierpnia heißt und an den 6. August des Jahres 1914 erinnert. Ein Datum, das damals und scheinbar auch heute als durchaus wichtig erachtet wird.
Auf dieser Straße wirst du entlangspazieren und dabei mehrere Straßen kreuzen. Im rechten Winkel. Denn im rechten Winkel wurden die Kreuzungen des Viertels vor vielen Jahren konzipiert. Das ist wichtig, doch hat nichts zu bedeuten.
Und du wirst stehen bleiben vor dem Haus, in dem der Vater deines Vaters einmal lebte. Es ist ein schlichtes Eckhaus mit einer Einfahrt in den Hof, in dem zwei Garagen vergammeln und alter Schrott liegt, der mit Rost überzogen ist, der die Pfützen und die Erde rot-braun färbt. Und der orange-ockerfarbene Anstrich des Hauses wird durchbrochen von weißen Plastikfenstern, die ebenfalls bereits hier und da zu gammeln beginnen. Und du wirst wahrscheinlich nach wenigen Augenblicken weitergehen.
Vielleicht wirst du ein Foto von dem Haus machen. Vielleicht auch nicht. Und vielleicht wirst du Hunger haben und Durst. Vielleicht auch nicht. Und vielleicht wirst du dich fragen, ob das Viertel, in dem die Straße liegt, das Viertel heißt Stare Polesie, nur zufällig so heißt wie ein kleines Dorf in der Woiwodschaft Masowien. Und weil du dir im nächsten Moment sicher sein wirst, dass dieser Zusammenhang wichtig ist, doch kaum eine Bedeutung hat, beschließt du, weiterzulaufen und Ausschau zu halten. Nach irgendwas. Weiterzulaufen bis zu dem Haus, das vor vielen Jahren einer der Großväter deines Vaters auf der anderen Seite der Innenstadt gebaut haben soll, denn damals, so wird sich heute noch erzählt, bauten Männer wie einer der Großväter deines Vaters Häuser scheinbar noch ganz allein.
Du wirst also durch die Innenstadt laufen und dann weiter im Norden nach Kleinigkeiten Ausschau halten. Und ein Baum oder ein Busch in einem Park, ein dekoratives Element an der Fassade eines einzeln stehenden älteren Hauses oder einer der Schornsteine wird dir auffallen. Und du wirst ihn abgleichen mit all den Schornsteinen, die du bisher gesehen hast. Du wirst das dekorative Element an der Hausfassade eines einzeln stehenden älteren Hauses einem Stil zuordnen, wirst den Baum und den Busch benennen und versuchen, die Namen der Straßen und Plätze im Gedächtnis zu behalten.
Und so läufst du im Zickzack durch die Stadtviertel Stare Bałuty und Marysin Doły und Helenów, bis du an den Zaun gelangst, an dem heute vor achtundsiebzig Jahren einer der Großväter deines Vaters mit seiner Frau und seiner Tochter steht und sie für einen Moment innehalten, weil sie hören, wie sich im Radegaster Bahnhof ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt ein Zug zur Abfahrt bereit macht, und sie vergessen, dass sie im Garten sind, um die Tomaten und die Beeren von den Sträuchern zu ernten. An dem Zaun, der das Viertel Helenów damals von einem waldähnlichen Park und gerodeten Flächen trennt, hinter denen sich das Ghetto der Stadt befindet.
Morgen, beschließt du an diesem Morgen, morgen fährst du allein nach Łódź.