Das Telefon in der Hand.
Der Abspann der Nachrichten.
Besetzt.
Brennpunkt.
Die Erschöpfung eines Menschen in der Fahrerkabine eines LKW.
Und über drei Stunden bis Mitternacht.
Die Erleichterung eines anderen Menschen kurz vor einem betonierten Küstenabschnitt am Atlantik.
Besetzt.
Die Sirene des Krankenwagens, der weiter im Westen der Stadt die Bundesstraße entlangrast.
Eine entwurzelte Fichte in einem der zahlreichen Mittelgebirge des Kontinents.
Besetzt.
Brennpunkt und die Sirene des Krankenwagens, die eine Sirene der Polizei ist.
Die eingesperrten Hunde im Keller eines unter Beschuss stehenden Hauses in der Mitte Europas.
Brennpunkt und die Sirene des Krankenwagens, die eine Sirene der Feuerwehr ist.
Zeitenwende für jene, die bis jetzt glaubten, Sommersonnesonnenschein forever.
Besetzt.
Fußball.
Und du, du erinnerst dich an ein Spiel im Jahr 2001.
An die von Schewtschenko nicht gesungene Hymne.
An die Möglichkeiten einer nicht erlernten Sprache.
An die von Ballack gesungene Hymne.
Das Displays deines Handys wird dunkel.
Und die Erinnerung an das Ergebnis liegt auf der matten Fläche.
Deutschland: vier. Ukraine: eins. Hinspiel: eins, eins.
Die Erinnerung an fehlende Fotos, weil es damals Handys mit Fotofunktion noch nicht gibt.
Und die Erinnerung an die vielen Stunden im Bus nach Odessa Ende desselben Jahres.
Die Erinnerung an den Geruch der Wurstschnitten.
An die alten sowjetischen Filme.
An die neuen Filme mit einem einzigen Synchronsprecher.
Die Erinnerung an die tiefe Stimme des Synchronsprechers.
Die Erinnerung an den Geruch der Bustoilette.
An aufgestellte Nackenhaare.
An die Kollekten für die Grenzbeamten.
Das Aussteigen.
Das stundenlange Warten in der Kälte vor und zwischen den Grenzen.
Das Einsteigen des Beifahrers, der die Pässe in der Hand hält.
Die Erinnerung an den Beifahrer, der zwischen den Grenzen zum Fahrer wird.
Die wachsende Abneigung vor Zäunen.
An Lemberg bei Nacht.
An die Straßenbahn in der Lemberger Nacht.
An die Felder und die Wälder und wieder die Felder und die beginnende Steppe.
An die Steppe, die vielleicht gar keine Steppe ist, sondern nur die Vorstellung von einer Steppe.
Die Erinnerung an die große Treppe und an einen Kinderwagen in Odessa.
An den Kinderwagen im Film über die Treppe.
An die Schlange vor dem McDonald’s, die eine Schlange vor der Toilette des McDonald’s ist.
Die Erinnerung an die mit einem Auto zusammenprallende Taube.
Die nicht angeschalteten Straßenlaternen.
Die ruhenden Kräne am Hafenhorizont.
An die Anoraks und die Pelze in der kalten Oper von Odessa.
An die Löcher in den Fußwegen, in denen Straßenhunde verschwinden können.
An den kleinen Eimer für das Klopapier neben der Toilette halbe Treppe.
An die verschwundenen Straßenhunde von Odessa.
Das Gesicht der alten Frau, die in ihrer Küche sitzt und eine stolze Großmutter ist.
Die Farbe des Treppenhauses, die einmal aus vielen Farben bestanden haben muss.
An das Museum in der Straße, die den Namen eines Dichters trägt.
An einen zu kurzen Rock vor einer Synagoge, der ein Kopfschütteln in der Synagoge auslöst.
An die Bank im Park bei der Oper.
An die schwingende Brücke, auf der Kinder hüpfen.
An hüpfende Tatrabahnen auf dem Weg zum Strand.
An alte Autos, die teure Autos von allen Seiten zuparken und als Wegfahrsperren dienen.
An die Kälte des Windes im Hafen, der sich an Wangen, Lippen und Nase klammert.
An umbenannte Straßen.
Die Erinnerung an die vergessene Liebe auf dem Dancefloor eines Clubs.
Das Rauschen der Wellen des Schwarzen Meeres bei Nacht.
An die Einschläge der Silvesterraketen in das rotfarbene Plastik der Ampel auf der Kreuzung.
An Verschleppte im Kofferraum eines Ladas auf dem Weg nach Bilhorod-Dnistrowskyj.
An den Trockenfisch und den Wodka in einer Sauna im Hinterhof.
An die zweihundertsiebenunddreißig gerauchten Zigaretten der Marke Prima.
Das dunkle Bad einer schlecht beleuchteten Suite in einem fast leeren Hotel.
An das Trinken mit zu früh verstorbenen Freunden auf dem Friedhof.
An die unbekannten Namen vertraut erscheinender Gesichter.
An das Wegrennen vor Polizisten.
An den Cognac, der mit Wodka verwechselt wird.
An die Stille der Rückfahrt.
Die Erinnerung an die Gesichter der deutschen Grenzbeamten bei Frankfurt/Oder.
Und die Erinnerung an all die Tage und Nächte in den Jahren danach.
An die Hochzeit in Odessa.
An zufällige Geburtstage.
An die Diskussionen nach der Orangenen Revolution.
An einen Jungen, der sich bei der Marine meldet.
Und an ein Mädchen, das sich in Kiew immatrikuliert.
An das Gras aus Dnipropetrowsk, das nach Heu schmeckt.
An Partys und an Clubs und an die Taxis danach, die in den Tag hineinfahren.
An das Bossenwerk eines Hauses in Czernowitz.
An die Kirchen, die Moscheen, die Synagogen und an das eine Haus der Zeugen Jehovas.
An den Khanpalast und die große und die kleine Kenessa in Bachtschyssaraj.
Die Erinnerung an die Tage und Nächte in den Städten und Dörfern und Steppen.
In den Wäldern und den Feldern.
An die Tage und Nächte mit Kassetten, die in Kassettenrekordern stecken.
Auf den Straßen in Bussen und in Autos und in Marschrutkas.
In Zügen und in Tatrabahnen.
Die Erinnerung an die Tage und Nächte auf kleinen Booten und auf größeren Fähren.
Im Delta der Donau und im Delta des Dnjepr.
In Kaufhäusern und in Kiosken.
In Restaurants und auf betonierten Promenaden.
Die Erinnerung an einen Grenzübergang nach Transnistrien, der gar kein Grenzübergang ist.
An das Monument eines Soldaten in Krasnohwardijske.
An einen Kreisverkehr am Fuße der Transkarpaten.
An den Felsen bei Sudak und an den Strand von Feodossija.
An die Tage und Nächte in den Blockwohnungen und in den Villen.
In den Einfamilienhäusern und in den Jugendherbergen.
Auf den Dächern über den Städten, in Cherson und Simferopol.
Und auf den Treppen von Jalta und Odessa und Sewastopol.
An ein letztes Rosch ha-Schana in Odessa.
Und du erinnerst dich.
Vor über dreißig Jahren sind wir zwei Kinder zweier Länder, die es heute nicht mehr gibt. Und diese Länder, die sind uns damals schlichtweg egal. Ganz einfach, weil wir Kinder sind. Wir kennen uns noch nicht, weil sich unsere Wege erst zehn Jahre später kreuzen. Und dann, dann sitzen und lachen wir gemeinsam vor dem Fernseher. Deutschland und die Ukraine spielen gegeneinander um eins der letzten Tickets für die WM 2002. In unserer Erinnerung singt kein ukrainischer Spieler den Text der Hymne zur Eröffnung des Spiels mit, weil – da sind wir uns sicher – keiner Ukrainisch kann. Und neben Ballack singen nur wenige deutsche Spieler den Text der deutschen Hymne mit, weil – da sind wir uns sicher – die bundesdeutsche Hymne mehr als albern ist, und auch einige deutsche Fußballer im Jahr 2001 genau das wissen.