Nach welchem System ordnen Sie Ihre Bücher?
Ein Gast schaute sich meinen Arbeitsplatz an, und als ich ihm sagte: Du siehst, ich arbeite noch mit Büchern, fragte er: Arbeitest Du mit den Büchern oder türmst du sie nur auf? Ich wusste nichts zu antworten. Der naheliegende Satz: Auftürmen gehört für mich zur Arbeit, erschien mir zu blöd. Aber vielleicht wäre das ehrlich gewesen. Denn was sich auftürmt, sind weniger Bücher, die ich aus dem Regal hole, weil sie mir zu einem bestimmten Thema nützlich zu sein scheinen. Es sind vielmehr die neu erworbenen, die mich angelacht haben, die ich unbedingt haben wollte, auch wenn ich gar nicht weiß, ob ich je die Zeit haben werde, mich mit ihnen zu beschäftigen. Das macht aber nichts, denn allein das Gefühl, ein bestimmtes Buch jederzeit aus dem Stalagmiten picken zu können, hat eine belebende Wirkung. Ohne diese Stalagmiten wäre nichts mit mir los am Arbeitsplatz.
Welches Buch lesen Sie gerade?
Ein Gespür dafür entwickeln, wann welches Buch dich begehrt und die dabei begangenen Irrtümer in Kauf nehmen. Mit jedem neuen Buch zum Analphabeten werden (gerade mit Elias Canetti, Ich erwarte von Ihnen viel und Didier Fassin, Der Wille zum Strafen).
Wie weit reicht Ihre Sammlung zurück?
Zu den ersten Büchern, die ich anschaffte, gehörten, ganz konventionell, die ältesten. Weswegen meine Ausgaben von Homer, Herodot, Plutarch und einigen anderen Griechen schon lange um mich sind. Nun sieht es so aus, dass ich sie erst im Ruhestand lesen werde. Das war nicht so vorgesehen, und irgendwann einmal dachte ich auch, mit 25 sollte man diese Autoren gelesen haben. Damit wären sie vielleicht erledigt gewesen. So kann ich wenigstens sagen: Die Griechen waren als erste da und kommen ganz zum Schluss.
Welche Bücher liegen Ihnen besonders am Herzen?
Ich erinnere mich ziemlich genau, wo ich bestimmte Bücher gelesen habe: Fluß ohne Ufer, Madame Bovary und Tod des Vergil auf dem Balkon einer Ferienwohnung an der Adria; Abend mit Goldrand am Stehpult meines Dortmunder Zimmers; Krankheit als Metapher in einer Jugendherberge im Marais-Viertel; Eichmann in Jerusalem in der Schöneberger Studentenkiste; Das Schloss am Strand von Formentera, Die Ordnung der Dinge in der Wohnung eines Freundes in Hampstead; Verhaltenslehren der Kälte im Appartment an der Dizengoff Straße. Und so weiter. Solche Erinnerungsbilder sind nicht kitschfrei, werfen vielleicht nur die Frage auf, ob diese Bücher mit diesen Orten verknüpft sind. Eigentlich nicht, und wenn, dann ist es umgekehrt: Die Orte sind mit den Lektüren präsent geblieben.
Welches Buch hat Ihr Leben verändert?
Das erste Buch ist nicht wie das erste Mal. An dieses mag man sich – egal ob es enttäuschend oder sensationell war – wohl erinnern, aber wer wüsste schon, welches das erste gelesene Buch war? Gemeint ist auch etwas anderes. Das erste Buch ist dasjenige, das den großen Vorhang wegzieht. Auf einmal sieht man die Welt, sieht sich selbst, und sogar, wenn auch undeutlich, die Verwerfungslinien zwischen beiden. Das ist der Moment, in dem Jugend sich selbst zu zerstören beginnt.
Welches Buch haben Sie zuletzt verschenkt?
Jörg Schröder, Siegfried und Annie Ernaux, Erinnerung eines Mädchens.
Wer soll Ihre Bücher einmal bekommen?
All die schönen Bibliotheken, die mit Mühe und Kennerschaft zusammengetragen worden sind, irgendwann werden ihre Bücher zerfleddert und zerschreddert, verdreht und verweht. Dann sind sie raumfüllendes Altpapier.
Wie sieht/sähe Ihre ideale Bibliothek aus?
Es gibt Bibliotheken, die ihre Vornehmheit daraus ziehen, dass sie über mehrere Generationen hinweg aufgebaut, gepflegt und weitergereicht werden. Sie nehmen keine spezielle Rücksicht auf ihren jeweiligen Besitzer. Doch was ist eine militärisch geordnete Bücherwand gegen ein verwühltes tableau vivant, das den Leser, der davor herumflaniert und zugreift, erkennbar werden lässt? Die Bücher verzaubern den Raum, wenn es dem Staub schwer gemacht wird, sich auf sie zu legen.
Die Antworten von Michael Hagner sind zugleich Textauszüge seines soeben in der Insel-Bücherei erschienenen Bandes »Die Lust am Buch«.