I . Sommer 2047. Hüttenstadt an der Oder – Am Meer begann unser Glück
Der afghanische Dolmetscher Caliban verlässt das Hotel Cyber Grill mit einem Fürstenroman in der Hand und durchquert zu Fuß Hüttenstadt an der Oder.
Hüttenstadt, einst, im 20. Jahrhundert, die erste sozialistische Stadt auf deutschem Boden, Planstadt für Stahlindustrie und Arbeit, oder: Ar-bei-ter!, war am Anfang des 21. Jahrhunderts mit einer Bevölkerungsentwicklung von –10 % und den meisten verlassenen und fensterlosen Häusern auf Platz eins des vom Fanclub der Deutschen Gesellschaft für Soziologie geführten Rankings für die traurigsten Städte Europas. Einige Jahrzehnte später, im Zuge der in Hüttenstadt entstandenen Bürgerinitiative »Ja zur Datenautobahn der Freiheit!« und der darauf folgenden europaweiten »Gläsernen Revolution« der 2030er Jahre, entwickelte sich die Stadt zu dem größten europäischen Handelszentrum für Cyberbrain und -körper weltweit, die Branche, in der Militär und Wirtschaft am glücklichsten ineinandergreifen. Zu dieser Entwicklung trugen vor allem die großen Zuwanderungsbewegungen aus sogenannten Entwicklungsländern in die Oder-Region ab den 2020er Jahren bei. Innerhalb weniger Jahre standen der Region Hunderttausende günstige Arbeitskräfte zur Verfügung, was den Massenbau von künstlichen Implantaten und den Ausbau der Cyberindustrie Oder Park ermöglichte. In dieser florierenden und sich selbst als »Utopie des Techno- und Datenkapitalismus« und »sehr fremdenfreundlich« bezeichnenden Planstadt, die nach ihrer erneuten Wiedergeburt als eine der Repräsentantinnen der sogenannten Oder-Ideologie – Ideologie des digitalisierten Geistes – gilt, ist Caliban auf dem Weg ins Gericht, um bei einer Verhandlung zu dolmetschen.
Caliban liest gerne Geschichtsromane oder Biographien von berühmten Menschen, Tieren und Robotern in seiner Freizeit und auf Zugfahrten. Und manchmal spielt er Final Fantasy, Final Fantasy VI, das letzte Spiel aus der 2D-Reihe der Rollenspielsaga aus dem letzten, dem bipolaren Jahrhundert, oder er schaut sich Spielaufnahmen davon an. Am liebsten mag er Aufnahmen von Terra, dem Hauptcharakter Terra Branford, der Supersoldatin mit magischen Kräften, die die Milizen des bösen Imperiums boom boom wegjagt oder blitzschnell dosenfertig schlachtet. Terra, die mit den trüben Augen, sagt sich Caliban, und erinnert sich an Talibans Einmarsch in Kabul am 27. September 1996 und daran, wie er als Kind, versunken in die Magie des Linearen, im Keller eines Lehmhauses wuchtig auf die Tasten seines Nintendo-Controllers drückte.
Gestern, als sich Caliban wie gewöhnlich Spielvideos anschaute und einen Anruf bekam, dass er heute zum Dolmetschen fürs Amtsgericht hierherfahren müsse, außerplanmäßig eingesetzt werden müsse in seiner Lieblingsplanstadt, ließ er seinen Roman auf dem Schuhregal liegen, vergaß den bekannten Löwen von Kabul einfach zuhause, vor lauter Euphorie darüber, dass er endlich wieder als Dolmetscher zum Einsatz kommen wird und keine künstliche Intelligenz und kein KI-Richter, der Urteile per Algorithmus fällt. Deshalb liest er jetzt einen Fürstenroman, das einzige Buch, das er im Hotel Cyber Grill auftreiben konnte: Am Meer begann unser Glück.
Caliban wird gelegentlich als interkultureller Trainer von KIs eingesetzt. In den letzten Jahren haben die KIs ihre menschlichen KollegInnen in den Bereichen Sprachkompetenz, Genauigkeit und Gesprächssteuerung, sogar in Sachen Ethik, Rollenverständnis und Stressmanagement, weit überholt. Nur im Bereich »Interkulturelle Kommunikation« und wenn es darum geht, gewisse Codes, Besonderheiten und Erzählweisen zu dechiffrieren und eine eventuell kulturell bedingte Kommunikationsstörung zu vermeiden, werden die teureren menschlichen Dolmetscher eingesetzt …
Soweit er am Telefon verstanden hat, geht es bei der Verhandlung um den Streit um ein Upgrade für eine neue Robotergeneration zwischen einem afghanischen und einem deutschen Konzern. Für Technologie-Konzerne ist die Spezifikation ihrer Cyberbrains und -körper das, was für die Staaten Länder und Grenzen sind. Caliban denkt sich, während er die Sicherheitsschleuse am Eingang des Gerichts passiert, irgendwann in der Zukunft werden die Konzerne alle Grenzen zwischen Ländern und Menschen eingeebnet haben, noch sind sie auf ein Nationalstaatensystem angewiesen. Er setzt sich im Warteraum an einen Tisch und blättert durch das dünne Paperback. Groschenromane überleben jede Ideologie und jede ökologische Bedrohung, sagt er sich, und dann, genau in dem Moment, als er im Romanheft die Werbung für einen Heimatroman entdeckt und auf das Foto des Autors blickt, in genau diesem vom Einbruch einer bekannten Wirklichkeit erfüllten Augenblick, spürt er, dass etwas in ihn hineinstechen möchte. Das Bild. Er kennt den Autor. Er kann sich erinnern.
Zurück zuhause, sucht Caliban in seinen unveröffentlichten Manuskripten nach den Eintragungen aus dem Jahr 2017.
II. Sommer 2017. Berlin an der Spree – Rückkehr als gebrochener Mann
Der Mitarbeiter einer Bundesbehörde, ich bin da gelegentlich dolmetschen, fragt mich nach meinen »Verfügbarkeiten« im August. »Füllen Sie bitte diese Tabelle aus.« Ich sage ihm, er bemerkt meine Vorfreude, dass ich im August nicht in Berlin sein werde: »Ich bin für einen Monat in Österreich.« Ich erzähle ihm, dass ich gerne dort bin: »Ich arbeite dort, also anders als hier in Berlin. Ich werde versuchen zu schreiben … wissen Sie, ich schreibe manchmal.« Und er: »Ich auch, wenn ich dazu komme, neben meinem 40-Stunden-Job.« Ich möchte wissen, was er schreibt, er aber lenkt ab. Danach betone ich, dass ich ihm bald meine Verfügbarkeiten für September per E-Mail zuschicken werde. Er schaut mich flüchtig an, nimmt einen kleinen Zettel und schreibt etwas auf. Ich kann ein Wort erkennen: »Rückkehr«. Dann sagt er mir: »Egal, wo Sie sind. Hauptsache, Sie schließen sich nicht dem Islamischen Staat an.«
Eine Weile später sitze ich im Euro-Asia Imbiss. Mein rechtes Augenlid hört auf zu zucken. Vor mir steht eine Miso-Suppe. Kalt geworden. Ich bekam die Kellnerin gar nicht mit. Zeitrisse. Plötzlich fühlt sich mein Magen voll an. Ich versuche mich an das Gesicht des Mitarbeiters zu erinnern. Es geht nicht. Ich weiß nicht mehr, wie er aussieht. Weiß nicht mehr, wie ich den Raum, das Gebäude verlassen, die Straße überquert habe, hierhergekommen bin und eine Suppe bestellt habe. Ich weiß nur, dass ich die Regungen, die Bewegungen der Menschen auf dem Weg als schnell wahrnahm, intensiv, bedrohlich. Statt an sein Gesicht erinnere ich mich an die Enthauptungsvideos des IS, an die Gesichter der Opfer. An die Falten in ihren Gesichtern, an ihre gefasste Haltung oder die geistige Unordnung, an die beunruhigende Intimität ihrer Blicke. Ich verliere eine Träne. Die Kellnerin kommt.
Draußen gehe ich an einem Steakhaus vorbei. Einem Schönheitssalon. Einem Billigbestatter. Und ich versuche mich zu beruhigen: »Komm schon, das war einfach ein blöder Spruch. Sei nicht so gemein. Er ist nicht rassistisch, er ist kein rechter Depp. Sei nicht so sensibel.« Ich denke mir, ja, es war schlimm, hässlich, brutal, ja, vielleicht ekelhaft, was er sagte, aber, »hör doch auf!«. Eventuell fühlt er sich jetzt auch schlecht (vielleicht erinnere ich mich doch an sein Gesicht?). Er sitzt 40 Stunden in der Woche an einem Schreibtisch, erledigt langwierige Büroaufgaben, schreibt täglich viele E-Mails, spricht mit unzähligen Menschen und starrt zwischendurch auf die ungehobelte Holzwand hinter seiner Kollegin, die dann zur gleichen Zeit auf die Wand hinter ihm starrt.
Und dabei verdient er … Ja, wie viel verdient er denn?, frage ich mich und hole mein Handy raus: Gehalt im öffentlichen Dienst! Sagen wir, er arbeitet im mittleren Dienst, Entgeltgruppe E6, sagen wir, er ist schon seit mindestens einem Jahr beschäftigt – ich versuche mich zu erinnern, wann ich ihn zum ersten Mal dort gesehen habe. Sagen wir 14,14 € pro Stunde. Das macht bei 174 Arbeitsstunden im Monat 2460,36 € Bruttogehalt, lass es plus Zuschlägen und Zulagen 2600 sein. Sagen wir 2700. Dann finde ich einen Brutto-Netto-Rechner und gebe die Zahl und andere Daten ein: Angenommen er ist um die 50, Steuerklasse 3, Kinder … 2011,21 € netto. Ich bin selbstständig und kenne mich nicht gut aus, aber es ist wenig, vor allem für eine Familie, denke ich mir, und merke, dass mich diese Zahl beunruhigt. Das Finanzregime hat es geschafft, uns Lohnabhängige gegeneinander auszuspielen. Die Märkte haben es geschafft, Risiken und Unsicherheiten nach unten zu den Entfremdeten zu transportieren!
Aber das hilft nicht. Dieses Gefühl hilft mir nicht. Mir tut’s weh, dass er mich anschaut, dass er sich mit mir unterhält, dass er mir in die Augen schaut und sagen kann: »Hauptsache, Sie schließen sich nicht dem IS an.« Was hört er in meiner Stimme, dass er annehmen kann, ich könnte mich einer brutalen Terrormiliz anschließen? Was sieht er in meinen Augen, dass er annehmen kann, ich könnte mich an entsetzlichen Verbrechen, ethnischen Säuberungen, Enthauptungen, Kreuzigungen, Ertränkungen und Verbrennungen bei lebendigem Leib beteiligen? Frage ich mich und werde trauriger und wütender. Kapitalismuskritik hilft auch nicht. »Außerdem, das, was er sagt, geht faktisch gar nicht«, höre ich mich sagen! Also mache ich einige Dehnübungen, gehe zu ihm zurück – er ist verwirrt – und zähle ihm zuerst die faktischen Widersprüche seines Spruches auf. Das passiert nur in meiner Vorstellung.
Ich gehe die Situation mehrmals durch. Irgendwann entscheide ich, wirklich zu seinem Büro zu gehen und ihn um ein Gespräch zu bitten. Bevor ich sein Büro betrete, wiederhole ich den ersten Satz: »Erstens: Der IS würde mich auf der Stelle töten, aus mindestens drei Gründen. Erster Grund …« Aber er ist nicht da. Niemand ist im Büro. Auf seinem Schreibtisch liegt der Notizzettel: »Heimatroman. Titel: Rückkehr als gebrochener Mann«.
Zuerst erschienen in: Suhrkamp Theater Magazin 2020