Der Schriftsteller ist dann jener, der schreibt, um sterben zu können und er ist jener, der diese Fähigkeit zu schreiben aus einer vorzeitigen Beziehung mit dem Tod erhält.1
Von Maurice Blanchot, dem großen Stichwortgeber der französischen Literaturtheorie und Philosophie nach 1945, stammt dieser Satz, der den Leser zunächst an Blanchots Abhandlung Die Literatur und das Recht auf den Tod erinnern mag, allerdings in Der literarische Raum zu finden ist. Die folgenden Zeilen entstammen ebenfalls dieser einflussreichen Zusammenstellung kritischer Schriften zur Literatur, die Blanchot seit Anfang der 1950er-Jahre in den Zeitschriften Critique und Nouvelle Revue Française sukzessive publizierte:
Das Geheimnis muss zerrissen werden. Das Dunkle muss ins Tageslicht treten und zu Tageslicht werden. Was nicht gesagt werden kann, muss dennoch vernommen werden: Quidquid latet apparebit, alles, was verborgen ist, soll sich zeigen, und nicht in der Ängstlichkeit eines schuldigen Bewusstseins, sondern in der Sorglosigkeit eines glücklichen Mundes.2
Für Blanchot ist die Literatur Laboratorium, in der Literatur wird Sprache zu Philosophie. Die Bezugnahme des Schriftstellers auf den Tod – im lateinischen Vers aus dem mittelalterlichen Hymnus Dies irae gar auf das Jüngste Gericht – erklärt sich derweil aus der strengen Scheidung der Worte der Literatur von den Dingen der Welt. Sprache, die keinem Zweck zu dienen hat, außer ihre eigene Wahrheit hervorzubringen, wirkt abgetrennt von der Welt – als Fülle des Lebens – und erlangt so für diese erst Bedeutung.
Nach der Veröffentlichung des französischen Originals 1955 wird der US-amerikanische Dichter Paul Blackburn zeitnah auf Maurice Blanchots Der literarische Raum aufmerksam geworden sein; falls ihm die einzelnen Artikel nicht bereits aus den genannten Periodika bekannt gewesen sind. Schließlich residierte Blackburn seit 1954 als Träger eines Fulbright-Stipendiums in Toulouse, wo er an der Übertragung der provenzalischen Troubadour-Dichtung ins Englische arbeiten konnte. Der südfranzösischen Stadt häufig überdrüssig, reiste Blackburn bereits während und weiterhin auch nach Ablauf seiner Förderung von Toulouse aus durch weitere Teile Europas. Während dieser Reisen – oder unmittelbar nach der Rückkehr in die Vereinigten Staaten, die Eindrücke werden zumindest frisch gewesen sein – schreibt er das Gedicht Answer to Two Inscriptions3. Mit den im Titel genannten zwei Inschriften sind die hier wiedergegebenen Zitate Blanchots angesprochen, die dem Gedicht Blackburns als Mottos – ohne Verweis auf ihre Herkunft oder ihren Verfasser – vorangestellt sind. Answer to Two Inscriptions gibt sich von Beginn an als Umkehrung der bruchstückhaften Zitate Blanchots, die seinen Anlass darstellen:
But the poet is he who writes
to be able to move .
He has his power to make
winds blow or sun come out
from his anticipated reality, his
relation with movement.
Dieser Auftakt entfaltet bereits die Dynamik, welche der Beweggrund des Gedichts ist. Das Gedicht ist die Bewegung desjenigen, der schreibt, um in Bewegung zu bleiben – also weiterhin zu schreiben. Das Gedicht erstreckt sich somit über die Zeit, ist ebenfalls Dichtung im Sinne einer Poetik, wie Lessings Laokoon sie für narrativ und dramatisch operierende Texte geltend machte. Das Schreiben von Gedichten ist eine Praxis, deren Bewegung auf die Schaffung einer ununterbrochenen Kontinuität von Anschauungen aus ist. Der Dichter schreibt, um nicht in einem Zustand zu verweilen, in dem er zu schreiben noch nicht begonnen hat. Vice versa: Sobald der Dichter schreibt, wird er damit nicht mehr aufhören. Und der Dichter kann, während er schreibt, die Anwesenheit von, nehmen wir die Beispiele des Gedichts: Wind und Sonne hervorrufen. Doch anders als bei Blanchot scheinen die Beschwörungen in Blackburns Gedicht an dieser Stelle einen antizipierenden Bezug zur Fülle des Lebens – anstatt zum Konzept des Todes – aufzuweisen. Diese Ausrichtung auf das Leben, dessen Wesen wohl am ehesten die andauernde Bewegung, der Erhalt der Bewegung ausmacht, ermächtigt den Dichter, schreibend eine eigene Welt zu schaffen.
Death guilt and anxiety
have nothing to do with it.
And if they are the movers
the bell isn’t ringing right.
Hear wind . See sun
Stop there if you can
Wir lesen in diesen beiden Passus von einer Regel und stoßen auf ein Gebot. Die Regel besagt, dass die Beweggründe, die das Gedicht seinen Gang gehen lassen, keine sein dürfen, die hemmend auf die Dynamik des Gedichte-Schreibens wirken. Der Tod ist – und das ist dann tatsächlich die entgegengesetzte Richtung von derjenigen, die der Blanchot der zwei Mottos einschlägt4 – kein Versprechen auf Freiheit, er ist Zwang, der überwunden wird, indem man ihn als den Stillstand, als den man ihn auffasst, nicht in Betracht zieht, ihn entsprechend übergeht. Stattdessen werden Wind und Sonne wieder wahrgenommen – doch nun nicht mehr gehört oder gesehen, als zugig oder warm (auf der Haut) gespürt, sie stehen stattdessen schon bereit, geschrieben im Gedicht. Das Gedicht könnte hier dann auch, so gebietet es selbst, in der Bejahung des Lebens – der Welt, die es ausmacht – aufhören. Aber: Es kann nicht, es geht weiter.
OKay, the secrets of the light
and of the dark
should be laid out clearly and
delineated . What’s
hidden in the heart laid open
with a laughing mouth and
open, OPEN!
Stop there
if you can
Das Verhältnis zwischen Gedicht und Welt erweist sich nun als reziprok: Um aus der bewegenden Fülle des Lebens schöpfen zu können, muss auch das Verborgene, der andere Anteil der Welt – Charles Olson schreibt in Human Universe vom Innen und Außen –, offengelegt werden. Ist dies (freudvoll und akribisch) geschehen, hätte das Gedicht dem Leben zu der Fülle verholfen, aus dem es selbst schöpft. Das Gedicht würde sich selbst zum Anlass nehmen und die eigene Bewegung anstoßen.5 Hier wäre erreicht, wovon es – wiederum im Gedicht – aus der Sicht des Gedichts einen Eindruck zu verschaffen gilt. Die Bewegung wäre derweil zur ununterbrochenen Bezugnahme geworden. Das Gedicht hätte den Versuch unternommen, die Fülle des Lebens vollständig zu fassen, die stetig durch die Offenlegung des Gedichts erweitert wird. Gedicht und Leben würden sich in einer Dialektik der Hypertrophie hochschaukeln. Während das eine versucht, das andere zu fassen, und dabei in seiner Fülle stetig anwächst, ist das andere bereits wieder – nicht zuletzt durch die Erweiterung der Fülle durch das eine – weitergewachsen:
THE OBSCURE SHOULD ENTER THE DAYLIGHT
AND CREATE LIGHT
THERE .
Das abschließende, wiederholte Credo, mit dem Answer to Two Inscriptions endet
But
stop there
if you can
klingt nur vordergründig wie eine Kapitulation (vor dem eigenen Anspruch). Denn die Bewegungen des Lebens und des Gedichts kennen kein Halten. Dennoch bricht das Gedicht hier ab. Jedoch: Ein weiteres wird geschrieben werden. Und wieder wird es (sich selbst) nicht genügen, sondern sein Ziel verfehlen, die Fülle des Lebens vollends zu fassen, des Lebens, dessen Fülle es selbst erweitert. – So heißt es in einem der 16 Sloppy Haiku6 von 1966:
Love is not enuf
Friendship is not enuf
Not even art
is / Life is too much
Edith Jarolim beschreibt gegen Ende ihres Vorworts zu den Collected Poems den umgekehrten Gang: »Clearly Blackburn did not so much allow his life to enter his poetry as – to an unusual degree – allow poetry to enter his life.«7 Vielleicht lässt sich Paul Blackburns Schreiben von Gedichten also sogar als eine rituelle Handlung beschreiben (insbesondere wenn man berücksichtigt, dass über die Jahre eine ganze Reihe von Gedichten entstanden ist, die mit Ritual überschrieben sind oder auch als Journals gesammelt werden). Begreift man indes den Roman als Form, die versucht das Leben zu fassen, das jedoch stets zu viel ist, um in der Form des Romans untergebracht zu werden,8 so versuchen die vielen Gedichte Blackburns im Vergleich dazu erst gar nicht, das Leben in Form zu umfassen, aus der das Leben aufgrund seiner Fülle ja eh immer wieder ausbrechen würde. Sie begleiten das Leben eher wie Doppelgänger. Sie sind letztlich weniger Form, als vielmehr Praxis, benötigen zum Verständnis ihres eigenen Anspruchs keine Theorie, sie selbst sind Methode.
Blackburns Gedichte warten – sieht man von kleineren Stichproben älteren Datums ab – weiterhin auf ihre Übertragung ins Deutsche. Wie Robert Creeley, Allen Ginsberg und Frank O’Hara kam Paul Blackburn 1926 an der Ostküste der USA zur Welt. Am 24. November 2016 hätte er seinen 90. Geburtstag feiern können. Infolge einer Speiseröhrenkrebserkrankung verstarb er allerdings, erst 44-jährig, bereits 1971. Ich erinnere mich – ohne es je wiedergefunden zu haben – an ein Zitat Robert Creeleys, das wie ein Epitaph für Blackburn auf dem Buchrücken seiner Selected Poems steht: »The power of his heart yields to none.« Und was ist ein solches Epitaph, wenn nicht die glückliche Verbindung von Leben und Kunst im Angesicht des Todes.