I could have been someone
Well so could anyone
Fairytale of New York
Es geht um den Olymp, das Schöne
(das wir kaum noch kennen)
denn uns erreichen vom Himmel allenfalls
heruntergeladene Klingeltöne
Pergamon Poems IV, Apollon
Allen Ginsberg behauptet in der Footnote to Howl, der Coda des Gedichts, das vor 60 Jahren den hohepriesterlichen Ton in der Lyrik nochmals populär machte: »Everyman’s an angel!«
»Jeder ist ein Gott«, heißt es in Kate Tempests Langgedicht Brandneue Klassiker. Die »kleinen Heldenstücke« und »alltäglichen Epen« erzählen von den gegenwärtigen Göttern, gemeint sind die Menschen, wohlwissentlich, dass es Engel nicht gibt.
Die griechische Mythologie ist nun sicher nicht das entlegenste Stoffreservoir der Weltliteratur. Wenngleich es einen doch verwundern muss, da möchte ich Helene Hegemann recht geben, wie (freudig) überrascht sich Kritiker beizeiten geben, sobald sie in einem zeitgenössischen Werk auf eine Note Homers stoßen. Eine Prise hohe Literatur aus der Fusionsküche der Gegenwartsliteratur herauszuschmecken, mildert anscheinend die Irritation über das, was man da eigentlich vorgesetzt bekommt.
Auf diese Weise zielt einiges Lob, das Kate Tempest bei jeder neuen Veröffentlichung zukommt, an den eigentlichen Stärken ihrer Werke vorbei. In gewisser Weise gilt das allerdings auch für diejenigen Stimmen, die dem Braten nicht trauen und auf ein grundlegendes Missverständnis in Bezug auf den Erfolg und die Art und Weise der Rezeption von Tempests Werk hindeuten. Die skeptischen Mahner stören dabei nicht die Allusionen auf die Antike, es ist vielmehr die Behauptung, bei Tempests Texten handele es sich um politische Literatur und bei der Autorin, problematisch genug, um die zornigste Stimme einer wütenden Generation.
Nahezu jeder don’t believe the hype-Mahnruf ist sicher erst einmal wichtig, will man über die Qualität und Potentiale eines – zumal zeitgenössischen – Werks sprechen. Die von Lars Weisbrod erhobenen Einwände in seiner Doppelbesprechung von Tempests Roman Worauf du dich verlassen kannst und ihrem zweitem Gedichtband Hold Your Own sind keineswegs aus der Luft gegriffen. Im Gegenteil: Wenn der Rezensent Tempest als auserkorenem politischen Gewissen ihrer Altersgruppe unterstellt, in der Anklage einer durch den Neoliberalismus bis zum Erbrechen durchkapitalisierten Welt soziologische Faktoren gänzlich auszublenden, dann hat er einen Punkt. Und so betrachtet, ist es weiterhin schwerlich von der Hand zu weisen, dass der Roman, wo er nicht aufpasst, Kinder aus besserem Hause mit einem Gefühl der Solidarität durch Problembezirke torkeln lässt wie Pauschalreisende durch exotische Urlaubsorte, die sie jederzeit wieder in Richtung sicherer Hafen Heimat verlassen können. Helene Hegemann schlägt in der Literarischen Welt in dieselbe Kerbe: Bei Tempests Auftritten gefalle sich ein homogenes Publikum vornehmlich in der Pose, zwei Stunden lang die Rächer der Enterbten zu mimen – solange es nach Konzertende mit gutem Gewissen wieder im Bewusstsein der bürgerlichen Mitte aufgehen könne. Dass es sich nicht um hintergründigen Protest, sondern lediglich um einen Sturm im Wasserglas handelt, werde bei genauem Hinsehen eigentlich bereits auf den ersten Blick deutlich: »Kate Tempest ist keine politische Figur, sondern ein Popstar.«
Hegemann gesteht Kate Tempest zu, dass sie selbst nicht viel dafür kann, unter welchen Vorzeichen ihr Werk rezipiert wird. Das lässt sich ebenso unterschreiben wie der Befund, dass ein Werk zeitweilig vor allzu groben Zuschreibungen bewahrt werden sollte. Nach meinem Dafürhalten handelt es sich allerdings schon bei der Behauptung einer politischen Stimme in Tempests Werk tatsächlich um das eigentliche Missverständnis. Nicht in der Weise, dass ihre Äußerungen schlichtweg zu unterkomplex seien, um als ›politische‹ Intervention durchzugehen. Vielmehr scheint – nehmen wir Brandneue Klassiker zum Anlass – Politik hier überhaupt keine Rolle zu spielen. Kritik, die sich in und durch Literatur äußert, wird derzeit aber gerne und ausschließlich als politisch motiviert und relevant wahrgenommen. Als gäbe es nichts anderes zu bekritteln, als gehe alles in der Politik auf, nur weil sich von Retweets auf Überzeugungen schließen lässt? Grob gesagt ist das reduktionistisch. Darum soll es so wenig gehen, wie Kate Tempest nach dem Mund zu reden. Obwohl es genau darum geht. Zu diesem Zwecke nun ein kleiner Umweg.
Die Reaktionen auf die Erstveröffentlichung von Friedrich Schillers Gedicht Die Götter Griechenlandes im Teutschen Merkur im Frühjahr 1788 gingen ziemlich auseinander. Schiller selbst hing an dem Gedicht zeitlebens und überarbeitete es – was Umstellungen, Hinzusetzungen, aber vor allem auch Kürzungen impliziert – für eine Ausgabe seiner Gedichte 1804, die wiederum beide, erste und zweite Fassung, beinhaltet. Ein Referat über das Gedicht kann dieses nie ersetzen – und als Eindruck mag es an dieser Stelle ausreichen, in Verbindung mit dem Titel, den ersten, in beiden Fassungen des Gedichts gleichlautenden Vers anzuführen, »Da ihr noch die schöne Welt regieret […]«, und darauf zu verweisen, dass die Überarbeitung, wo die erste Fassung die Moderne und die Unhintergehbarkeit des ›kalten‹ Verstandesdenkens harscher an den Pranger stellt, einen – gemäß Schillers eigener Definition, die er in der Periode zwischen den zwei Fassungen der Götter Griechenlandes entwickelt – elegischeren Ton anschlägt. Die Götter und das, was sie repräsentieren, sind mit dem Untergang der alten Welt, dem Ende der konstruierten Antike, aus der Welt der Menschen verschwunden. In der zweiten Fassung beginnt die Schlussstrophe mit der deutlichen Ansage: »Ja sie kehrten heim und alles Schöne | Alles Hohe nahmen sie mit fort […].« Dass der Rückzug der Götter derart als Verlust von Schönheit in der menschlichen Welt gedeutet wird, also dass das »Schöne« hier explizit benannt wird, ist Schillers Antwort auf die unmittelbare Rezeption der ersten Fassung: Kurz nach ihrem Erscheinen wurde teils hitzig über Poly- und Monotheismus, das rationalistische Weltbild der Moderne und das noch nicht eben zementierte Recht auf dichterische Freiheit debattiert. Die Vorwürfe und Repliken streifen zwar irgendwie die Frage nach der Autonomie der Kunst, blenden jedoch weiträumig die Implikationen einer geschichtsphilosophisch grundierten Ästhetik noch aus. Kants Kritik der Urteilskraft war noch nicht erschienen, und folglich hatte auch Schiller noch nicht die Läden seiner philosophischen Bude geöffnet; Schönheit war noch nicht in aller Munde – und so zielten seinerzeit auch die Kritiker der Götter Griechenlandes zumeist an einem zentralen Aspekt des Gedichts vorbei.
Heute ist Schönheit eigentlich kein Thema mehr. Die philosophische Ästhetik ist zwar das Fundament eines breit gefächerten Diskurses, der sich schwerlich als esoterisches Expertengespräch abqualifizieren lässt, doch die Lehre der Schönheit, im schillerschen Sinne die Frage nach einem genuin menschlichen Vermögen, welches das Edle und Gute ans Licht treten lässt, wird wenig diskutiert. Zu den Ausnahmen zählen die Texte Kate Tempests: Hier sind es das Geld und der Konsum, die verführen, sie segregieren die menschliche Gemeinschaft in soziale Schichten, die gegeneinander aufgewiegelt werden, wohingegen das Vermögen, Schönheit zu empfinden, allen gemein ist und die Individuen nicht trennt, sondern verbindet. Der Glaube an diesen sensus communis ist es auch, der es absolut gleichgültig werden lässt, ob die Kritik an den herrschenden Zuständen von einer Anwaltstochter oder dem Sohn eines Sozialhilfeempfängers artikuliert wird. Dass nicht jeder mit dem Konzept der Schönheit in Berührung kommt, ist schlimm genug und eine ausgemachte Sache. Doch ausgemacht von wem? Das ist der Grund, weshalb die Anklage der Konsumwelt in den Texten Tempests gebetsmühlenartig wiederholt wird und so zwar anstrengt, doch grundsätzlich und immer aufs Neue berechtigt ist. Was die wiederholte Anklage dabei besonders macht, ist der Ausdruck tiefen Vertrauens in die Bedeutung der menschlichen Existenzweise als Erfahrung von Schönheit. Zu einer Zeit, in welcher der Konsum und die Werbung jedes Individuum zu Gott verklären, es seiner Omnipotenz versichern, so aber tatsächlich doch nur ruhigstellen, der Freiheit berauben und es bis zur absoluten Hülle entmachten, schätzt Tempests Brandneue Klassiker den Gott als Mensch.
In seiner anregenden Rede Die Götter – die Menschen. Friedrich Schillers lyrische Antike bezeichnet Ernst Osterkamp Schillers Vorstellung der Antike nicht als idealisiertes Gegenbild zur Moderne, sondern vielmehr als deren Spiegelbild:
»Schillers lyrische Antike ist eine entidealisierte, tragisch zerrissene und pathetisch aufgeladene Antike. Jedenfalls gilt dies für alle Gedichte, die Schiller von der Aufgabe entlastet, die Antike als ideales Gegenbild zur Moderne zu entwerfen; wo Schiller aber in rhetorischer Absicht diese Idealisierung Griechenlands in seinen Gedichten vornimmt, dort ist dies ideale Griechenland ein Land nicht der Menschen, sondern der Götter.«1
Weiter folgert Osterkamp:
»Da also Schiller in seiner geschichtlichen Welt wenig Gelegenheit hatte, Glückliche zu sehen, beschwört er in seinen Gedichten die Götter Griechenlands als Gegenbild zu den leidenden Menschen der Moderne. Die ganzen Menschen der Antike, von denen seine philosophischen Schriften erzählen, sind, wie seine Gedichte zeigen, in Wahrheit die Götter; die griechischen Menschen hingegen unterscheiden sich in seinen Gedichten nicht von denjenigen der Moderne. Sie sind zunächst und vor allem ›Leidende‹, wobei ihr Leid oft noch größer ist als dasjenige ihrer christlichen Nachfahren, weil sie als Individuen unmittelbar dem Zorn und dem Neid der Götter ausgesetzt sind.«2
Kate Tempests Gedicht fordert im Gegensatz (oder in der Fortführung, wie man will), diese Trennung zwischen Göttlichem und Menschlichem aufzuheben. Die Antike verfügte ja bereits über eine Mittlerfigur zwischen den beiden Sphären, den Heros, und Tempest schreibt eben »kleine Heldenstücke«. Ihre Menschen sind gleichermaßen Götter, die alleine schon ihrer Herkunft halber die Einbuße der Schönheit in der fremdgedeuteten Welt nicht akzeptieren können. Unter dem Pflaster der Strand, das ist eine Parole, die man auch rein ästhetisch verstehen kann. Und weiter weiß Hyperion: »Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön.«
1Osterkamp, Ernst: Die Götter – die Menschen. Friedrich Schillers lyrische Antike. Münchener Reden zur Poesie. Hg. von Ursula Haeusgen und Frieder von Ammon. München: Stiftung Lyrik Kabinett 2006, S. 17.
2Ebd., S. 17f.