Zu schreiben ist eng verbunden mit Sprechen, und mit dem Sprechen eine Stimme zu erheben, überhaupt: eine eigene Stimme zu sein und zu werden. Gegen ein Schweigen, gegen ein Verschwiegenwerden.
Mein Vater hat gestottert – und war zugleich einer, der Sprache am feinsten und tiefsten wahrnahm, was nicht weiter verwunderlich ist. Wer ringen muss mit und ums Sprechen, weiß, wie sehr dem Sprechen eine elementare Seinswerdung innewohnt, körperlich ebenso wie sozial. Sprechen wird zum existenziellen Akt, und zum kleinen genuinen politischen Moment. Ein Heraustreten aus dem Moment der Ohnmacht oder der Machtlosigkeit – hinein in ein Sprechen, hinein in den Einspruch, hinein, wenn’s sein muss, in den Widerspruch.
Was das mit Bachmann zu tun hat? Mit Ingeborg Bachmann und mit dem nach ihr benannten Bachmann-Wettbewerb?
Dass der nach ihr benannt ist, gibt ewig zu denken auf: Ausgerechnet die ausgesetzteste Verhandlung über Literatur, von der es sogar heißt, sie könne Autor_innen vernichten, (warum auch immer), ist nach einer benannt, die sich massiv ausgesetzt hat, und der die Sprache überallhin gefolgt ist, dorthin, wo sie noch das Unsagbarste menschlicher Verletzung lüften wollte. Nach einer, die ebenso radikal wie verletzbar für die größten Potenziale der Menschen einstand, für die Liebe und für die Sprache. Und die dafür so erbärmlich abgeprallt ist vor den Bastionen der Urteile und Beurteilungen, auch vor Männern, denen Urteilsberechtigung und Deutungshoheit noch weniger in Abrede gestellt wurde, als es heute der Fall ist.
Bachmann wäre nicht einverstanden mit dem Bachmann-Wettbewerb.
Ich war es. Ich kannte die Spielregeln und sah es als Spiel, in das ich bereit war, mich hineinzustürzen, schon aus einer Neugierde heraus.
Doch dann kam dieser plötzliche Moment der Furcht. Nicht vor dem Lesen, nicht davor, mich auszusetzen. Dazu bin ich, und war ich immer bereit. Mich der Öffentlichkeit zu stellen, mich mit einem Publikum einzulassen auf die Wege, die sie mit meinem Text einschlagen.
Es war die Furcht vor dem Gebot des Schweigens, während andere urteilen und bewerten.
Und nicht die Furcht vor ihnen war es. Es war die Furcht vor mir selbst.
Ich fürchtete meine eigene Unberechenbarkeit einer Situation gegenüber, in der ich das Urteilen anderer über mich ergehen lassen sollte, ohne selbst mitsprechen zu können. Wird mein Kopf das aushalten? Wie wird mein Körper reagieren? Werde ich mich kontrollieren können? Werde ich schweigen können? Und: Wenn ich mich dazu bringe zu schweigen, wie werde ich hinterher über mich urteilen? Darüber, dass ich mich in diese Situation gebracht habe? War ich nicht mit dem Schreiben über diese Ohnmacht hinausgetreten? Und jetzt sollte ich mich ausgerechnet mit dem, das mich darüber hinausführte, das Schreiben von Texten, dorthin zurückbringen?
Was, wenn sie sich gegen deinen Text aussprechen, und du ihn nicht verteidigen wirst?
Wenn es nicht ein Feedback ist, stattdessen ein Urteilen, ein Richten?
Was, wenn sie wenig sehen wollen, oder gar nichts? Wenn sie sich verweigern?
Was, wenn dir und deinem Text Unrecht getan wird, und du daneben sitzt und schweigst?
Nicht sprechen kannst, nicht sagen kannst, worum es dir geht, was du versucht hast, gewagt hast, was du mit deinem Text anders wahrnehmen und wahrgenommen haben möchtest.
Aber spricht ein Text nicht für sich allein? Sicher dann, wenn er offen angenommen und wahrgenommen wird, wenn hingehört wird. Was, wenn nicht?
Besteht doch der eigentliche verborgene Kampf nicht darin, dass Texte in ihrer Qualität ›gegeneinander‹ antreten. Das ist der Mythos. Sondern dass Haltungen gegeneinander antreten, die sich im Text manifestieren und über die eine Jury zu befinden hat.
Was will ich mit einem Text – und was will der Juror oder die Jurorin von ihm?
Texte können sich innerhalb des bekannten literarischen Kunsthandwerks aufhalten, oder sie wollen darüber hinaus streben. Über das bekannte Narrativ hinweg, über das eingeräumte Denken hinweg, hin zu einem, das noch ungewohnt ist, unbekannt, nicht eingeräumt. Solche Texte verlangen nach der anderen, der noch unbekannten Form, nach der anderen Mischung. Das kann nicht und will nicht in vollendeter Poesie geformt und gewunden sein. Denn es strebt nach was anderem, nach dem Realen und nach dessen eigener Materialität.
Bekannt ist es, »den Flüchtling« als den Alien zu denken, die ganz andere Spezies Mensch, die weit entfernt von unseren Vorstellungen von Freiheit und Glück, allein von Kriegen, Elend und Not passiv bewegt wird. Bekannt ist das Aufeinanderprallen von Welten, bekannt ist die Dystopie, wir lieben unsere bekannten und bewährten Narrative, und sie werden hart verteidigt an einem Bachmann-Wettbewerb.
Gegen das Wagnis, all das anders zu denken, gegen die getrennten Welten, und keine Untergänge, und keine ganz anderen, sondern nur uns.
Texte, die das andere Denken wollen, brauchen zu ihrer Beurteilung nicht nur das literarische Wissen, und nicht nur den Rezeptionsrahmen von Kunst.
Sie benötigen ein politisches Bewusstsein, überhaupt ein Verständnis für den Widerspruch und für die Notwendigkeit, vom anderen zu schreiben.
Darüber also entscheidet allein und einzig die Jury. Und die Autorinnen und Autoren haben zu schweigen. Das Gebot des Schweigens hat uns alle umgetrieben, am Ende hat es jeder ertragen, auch ich. Hatte ich doch schon mit meinem Text gesprochen. Zu einem Publikum, das mich zur linken und zur rechten Seite flankierte und sehr bei mir war, sehr viel näher als die Juroren, die weit vorne im Saal in einem tatsächlich fast richterlichen Halbkreis hinter ihren Tischen saßen. Gab es den Augenblick der Furcht? Keine Sekunde.
Wir alle waren eins. Publikum, Jury, ich. In höchster Konzentration waren wir zusammen beteiligt; das Weiß des Raumes, der Sessel und der Tische gab dieser Konzentration noch eine zusätzliche Würde. Und so war es auch beim Lesen: konzentriert und beisammen.
Warum aber sprachen hinterher nur die Juroren? Die Frage stellte sich wieder. Ganz blank, ganz radikal. Als eine ganz unverständliche Konstellation. Wir waren doch drei – ein Publikum, eine Autorin, eine Jury. Warum hatte nur diese das Wort? Warum nicht auch andere Stimmen und Sichtweisen gelten lassen?
Etwas fiel mir auf, nämlich, wie leicht genau das bestimmte Leute – weiß Gott nicht alle! – zur autoritären Pose verleiten kann. Dass sie sich sogar verleiten lassen, das eigene Urteil als absolut und gesetzt zu denken, sogar als unhinterfragbar. Es kann dazu führen, dass im lehrmeisterlichen Ton gesprochen wird, ja! Sogar zu Belehrungen kann es kommen.
Es kann also ein ganz grässliches Missverständnis in die Welt setzen, das, einmal gesetzt, schwer auszuräumen ist: nämlich das Missverständnis, dass wir uns nicht auf derselben Augenhöhe befänden. Juroren und Autoren, sondern die Ersteren einen Kopf drüber.
Und plötzlich tauchen auch wieder alte Geschlechterrollen wieder auf. Dabei sind wir doch längst schon woanders, oder nicht?