Mit dem WM-Extrablatt begleiten wir die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien vom 12. Juni – 13. Juli 2014. Unser Team: Imran Ayata, Friedrich von Borries, Paul Brodowsky, Petra Hardt, Heinz Helle, Verena Güntner, Thomas Klupp, Katja Kullmann, Matthias Nawrat, Christoph Nußbaumeder, Albert Ostermaier, Thomas Pletzinger, Doron Rabinovici, Lutz Seiler, Stephan Thome, Stefanie de Velasco.
Jetzt laufen schon die Viertelfinalspiele, aber ich denke noch immer an Cristiano Ronaldo. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass er nicht mehr dabei ist.
Seit Deutschland gegen Portugal frage ich mich das.
Ich schaute das Spiel vor einem Café in meinem Viertel. Merguez wurden gegrillt, der Rauch wehte hinüber auf die andere Straßenseite, zur Konkurrenz unter der Markise. Am Nebentisch drei junge blonde Frauen mit Deutschlandflaggen-Lippenstiftbildchen auf den Wangen. Direkt vor dem Bildschirm auf der Bierbank zwei Jungs in Deutschlandtrikots. Um mich Bildhauer, Eltern, Studenten.
Nach dem 2:0 herrscht schon längst gute Stimmung. Aber dann das 3:0. Und dieser Moment: Ins Bild kommt das Gesicht von Cristiano Ronaldo, die Enttäuschung in der Superzeitlupe verzerrt, er ist den Tränen nahe. Und die Menge um mich lacht, macht Scherze über seine Frisur, über seine Wut.
Was traf mich daran?
Ich hatte das schon 2010 beim 4:0 gegen Argentinien erlebt. Eine Strandbar an einem See in Mecklenburg, rotgebrannte junge Männer mit freien Oberkörpern; Bier- und Pommesgeruch. Im Bild der weinende Maradona auf der Trainerbank. Und von allen Seiten nur schadenfrohes Gelächter. Die freuen sich, dass Maradona weint, dachte ich erschrocken. Dumme deutsche Provinz.
Aber hier, in meinem Viertel in Berlin?
Weiter: Ronaldos Freistoß verpuffte in der Ein-Mann-Mauer Philipp Lahm. Und durch die Menge ging ein fröhliches Oooh. Und dann meine Erkenntnis: Auch mich freut es, Cristiano Ronaldos Verzweiflung zu sehen. Das bin ich, der hier lacht.
Ich war wirklich erschrocken, und ich bin es jetzt noch.
Der Mensch, so meinte ich bald zu wissen, stört sich am modellierten Gesicht des Cristiano Ronaldo. An dem Körper mit den schräg abfallenden Schultern, wie bei einer griechischen Vase. Er will auf diesem Gesicht Unglück sehen, verzerrt durch die postmoderne Superzeitlupe. Nie hatte ich so viel Mitleid wie ich es mit Cristiano Ronaldo seit diesem Moment habe. Er ist nicht nur gestraft mit einer unzeitgemäßen Schönheit, sondern stellt diese noch stolz und naiv zur Schau. Ein griechischer Held, über dessen Scheitern die Welt sich freut.
Aber ist er überhaupt schön? Ein paar Tage später erwähnte ich einer Freundin gegenüber die griechische Vase. Niemals, rief sie. Ronaldo sehe aus wie ein Spasti.
Ich habe ihn mir dann genau angeschaut, im Internet. Violett gefärbte Haarspitzen und reinrasierte Seitenstreifen. Leuchtend weiße Zähne. Ein selbstverliebtes, aber auch kindlich-naives Lächeln. Hohe Wangenknochen, Überaugenwülste. Ist dieses Gesicht schön? Und der Körper – griechische Vase, oder was? Ich weiß langsam gar nicht mehr, was Schönheit überhaupt ist.
Portugal ist längst ausgeschieden. Und ich schäme mich noch immer. Schaut doch genau hin: Er freut sich, wenn ihm ein Tor gelingt. Er leidet, wenn nichts klappt. Nach dem 4:0 war er der Einzige, der überhaupt noch was versuchte, der noch immer an ein Tor glaubte. Seine Verzweiflung ist doch echt. Das alles gehört doch zur Schönheit des Cristiano Ronaldo dazu.