12. September 2018
Ich skype mit M. Kennengelernt habe ich ihn in Usbekistan. 2016 war ich für einen Monat dort. Er sagt, nun mache er ernst, das Flugzeug sei gebucht, er werde Usbekistan für immer verlassen. Sechs Jahre habe er dafür gespart, sagt M., sich Gründe überlegt, die diese Reise rechtfertigen. Es gebe sogar einen Vertrag mit einer Universität in Deutschland. Er werde an einem einwöchigen Deutschkurs teilnehmen, irgendwo in Süddeutschland.
Vor Monaten habe ich M. meine alte Kamera geschickt. Ich habe ihm gesagt, er solle Fotos machen, wenn er mit seinem Vater und dem Traktor unterwegs ist, wenn sie am Fluss sind, um zu angeln, wenn er mit den Kühen draußen ist. Das mache ich, sagte M. Ob er die Kamera dann behalten dürfe? Sicher.
M. fährt jedes Mal mit dem Rad in ein Internetcafé nach C., um zu skypen, sechzehn Kilometer. Es sei sicher, ich solle mir keine Sorgen machen, sagt M. Die Staatssicherheit in Usbekistan sei zu dumm, um ihn abzuhören. Die wüssten nicht mal, dass es so etwas wie Skype gibt. Außerdem können die kein Deutsch, alles easy, sagt M. Für die usbekische Staatssicherheit seien vierzig Jahre alte Wanzen aus Sowjetbestand Hightech. Man sagt, sie hätten oft nicht mal Strom in ihren Büros. Ob er sich sicher sei, dass sein Zimmer nicht verwanzt ist, frage ich, denn manchmal rufe ich ihn auch auf seinem Handy an. Auch dafür seien die zu blöd, sagt M. Außerdem lege er jedes Mal, wenn er das Haus verlasse, ein einzelnes Haar auf die Türklinke seines Zimmers. Wenn jemand in seinem Zimmer gewesen wäre, würde er das merken.
Dann zählt er auf, wen er bestochen hat und womit, damit er nicht auf die Liste derer kommt, die nicht ausreisen dürfen.
Mit P., seinem Nachbarn, trinkt er Bier und verplappert sich. Am nächsten Morgen klopft P. an die Tür. Gib mir eine eurer Kühe oder ich verrate dich, soll er gesagt haben. P. bekommt die Kuh, läuft mit ihr drei Stunden bis zu einer Mahalla am Stadtrand von Taschkent und verkauft sie dort unter Wert. P. wird ein halbes Jahr von dem Geld leben können, sagt M.
B., der M.s Dozent ist, fällt auf, dass M. sein Hemd nicht in die Hose steckt. Aber die Vorschrift will es so. B. kommt nach der Vorlesung zu ihm und sagt: Gib mir zweihundertfünfzigtausend Soʻm und ich schreibe dich nicht auf die Liste. M. geht nach Hause, sucht die Holzkiste, in der sein Vater die Ersparnisse hat. Er findet sie unter dem Bett seines Vaters. M. geht in B.s Büro, sie reden eine Weile. Bevor sie sich zum Abschied die Hände reichen und M. wieder geht, gibt er B. den Umschlag mit den zweihundertfünfzigtausend Soʻm. B., sagt M., habe kein Wort darüber verloren. Das liege an den Wanzen im Büro.
N., die er liebt, wie er sagt, droht ihn zu verlassen und zu verraten, wenn er wirklich weggeht. Ihr gibt er die drei Nike-Pullover, die ich ihm vor anderthalb Jahren geschickt habe. Sie sind fast so viel wert wie eine Ziege, sagt M. N., die ihr Glück nicht fassen kann, verspricht, den Mund zu halten.
N., B., B., D., T. und D. bekommen: einen Duden, fünfzigtausend Soʻm, zwei alte Winterreifen, einen Eimer mit roter Farbe, ein defektes Nokia 3210 und die Flasche Whisky, die ich M. vor ein paar Monaten geschickt habe. Ein Wunder, sagt M., dass sie die Flasche nicht kassiert haben, irgendwo auf einem der Zollämter, das sei nichts als ein Wunder.
3. Oktober 2018
Ich skype wieder mit M. Er habe mit seinem Vater geangelt. An der blauen Brücke, vor der Ruine. Ob ich mich erinnere, dort hätten wir auch schon geangelt, damals. Ja, sage ich, ich erinnere mich gut. Nach einer halben Stunde, sagt M., hätten sich fünf Männer genähert. Sie hätten die Männer schon von Weitem gesehen. M. und sein Vater hätten die Angeln schnell in einem der Büsche versteckt, weil es, wie ich ja wisse, verboten sei, im Fluss zu angeln. Aber die Männer hätten sich gar nicht dafür interessiert. M. sagt, dass er einen der Männer erkannt habe, er wohne in einem der Nachbardörfer und sei einer der vielen Cousins von N. Er habe ihn allerdings nur einmal gesehen und das sei schon Jahre her. Die anderen habe er noch nie gesehen. Sie hätten sie umzingelt und genau einen Satz zu ihnen gesagt: Wir werden euch jetzt zusammenschlagen. M. sagt, dass er, ob er wolle oder nicht, jede Nacht, wenn er im Begriff sei einzuschlafen, das Gesicht seines siebenundsechzig Jahre alten Vaters vor Augen habe, der zu ihm schaute, während zwei der Männer ihn festhielten und ein dritter auf ihn einschlug, und er selbst, also M., einen Tritt nach dem anderen abbekommen habe. N. hat dich verraten, sage ich. Das glaube ich auch, sagt M.
12. Oktober 2018
M. ist nicht nach Deutschland geflogen. Man habe ihm einen Brief geschickt, in dem stand, dass man ihm die Ausreise verweigere. Aber das, sagt M., sei auch egal, denn er habe sowieso nicht mehr ausreisen wollen. Nachdem man sie verprügelt hatte, habe er seinen Vater mit einer Schubkarre nach A. gefahren, wo L. wohnt, den er flüchtig kenne und dessen Nachbar R. früher Arzt war. Vaters rechtes Ohr sei nun so gut wie taub, sagt M. Später sei er zur Polizei gegangen. Dort habe man ihm gesagt, dass man nicht zuständig sei.