Warum gerade dieses Wasser? Warum diese Stadt? Es gibt Alternativen, dort wo ich wohne. Wenige hundert Meter von meiner Haustür entfernt halten auch sie bereit, wonach ich suche: der Karl-Heine-Kanal, das große Elsterflutbecken am alten Zentralstadion, die Pleiße im Süden der Stadt, der Elster-Saale-Kanal Richtung Merseburg. Was ich sparen könnte: Zeit, Benzin, die Fragen der anderen.
Der Morgen ist fahl. Noch eine halbe Stunde bis Sonnenaufgang. Ein Pfad führt mich von der Röpziger Brücke bis zur Halbinsel. Ich brauche kein Licht: Ich kenne diesen Ort gut. Auf Höhe der drei Birken greifen Wurzeln nach den Füßen der Unachtsamen. Elf Schritte später klaffen Löcher im Boden, ganze Fußbälle könnten in ihnen verschwinden. Neben der Buche, vor vielen Jahren vom Blitz gespalten, bleibe ich stehen. Die Luft ist kalt. Auf dem Herbstlaub schimmert der Frost. Im Buschwerk neben mir schimpfen Fasane.
Ich bin froh über die Müdigkeit. Ich bin froh über den Frost, der sich schon nach Minuten jeden meiner Finger vornimmt, später meine Füße. Ich bin froh über die Dunkelheit, die volle Stunde, die ich im Auto verbracht habe, um an diesen einen Ort zu gelangen. Diese klitzekleinen Qualen sind wichtig, sie gehören zu diesem Tag wie alles andere. Sie sagen: Du machst alles richtig. Es wird sich lohnen.
Verluste gehören dazu. Die Haken meiner Spinner und Gummifische werden immer wieder hängen bleiben: an gesunkenen Bäumen, an Speichen alter Fahrräder, an Dingen, von denen ich keine Ahnung habe, dass sie dort unten in vier Metern Tiefe die Zeit überdauern. Bleibe ich hängen, spanne ich die Schnur bis zum Zerreißen. Sie trägt neun Kilo. Ich werde versuchen, das, was sich mit dem Drilling gegen mich verbündet hat, herauszuziehen. Reißt die Schnur außerhalb des Wassers, gibt es einen lauten Knall.
Die Schönheit um mich herum ist brüchig. Zwischen den Baumkronen, hinter einem Haus, das einzige weit und breit, wächst ein großer Schlot in den Himmel. Seit mehr als fünfzehn Jahren komme ich an diesen Ort: Anfangs bin ich gelaufen, dann mit dem Rad gefahren, später mit dem Auto. Das Kraftwerk in Schkopau und der trübe Rauch aus diesem Schlot gehören zu diesem Ort wie die Eisvögel. Von Ast zu Ast fliegen sie, wenige Zentimeter nur über dem Saalewasser. Zwei Jahre waren sie verschwunden. In dieser Zeit trieben unförmige Inseln aus Schaum auf diesem Wasser. Im Sommer 2002, als die letzte Insel verschwunden war, kehrte der erste von ihnen zurück. Diese Vögel sind klug.
Am letzten Tag des Jahres 1999 werfen sie einen großen Anker in den Fluss. Neben einem Mann in Overall, den ich hier noch nie gesehen habe, steht ein Junge, vielleicht sein Sohn. Auch ihn sehe ich zum ersten Mal, er ist kaum älter als ich. Nur selten begegne ich hier unten jemandem, den ich nicht kenne; viele kommen an den Wochenenden, manche sind wie ich fast täglich hier.
Ist der Anker gesunken, hängen sie das Ende des Seils an die Anhängerkupplung ihres Pick-ups. Das Dröhnen des Motors ist ungeheuerlich laut. Es gibt eine unausgesprochene Abmachung, an die wir uns alle hier halten: keine Geräusche, die nicht unbedingt notwendig sind.
Unrat ziehen sie heraus, Äste, ganze Bäume. Die Freude über ihre Beute lässt den Jungen tanzen. Überall hängen abgerissene Köder: Gummifische, Spinner, Blinker. Köder für Köder lassen sie in einen großen, blauen Müllsack fallen. Am wertvollsten sind die Wobbler, das Stück zu zwölf Mark. Gleich drei pflückt der Junge aus dem morschen Holz eines dicken Stamms. Dann schleudert sein Vater den Anker wieder in den Fluss. Die Kälte scheint ihnen nichts auszumachen. Ich verberge mich seit Minuten hinter einer Kastanie. Schnee schmilzt auf meiner Nase, die Hände habe ich tief in die Hosentaschen geschoben. Wieder heult der Motor auf, wieder ein Stamm, den sie die Böschung hinaufziehen, bunt glitzern die metallenen Spinnerblätter.
Dann verschwindet ein Wobbler in den Händen des Jungen. Er trägt die feine Zeichnung einer Forelle auf seinen Flanken, die Tauchschaufel an seinem Kopfende ist lang und rot. Diesen Köder gibt es kein zweites Mal. Mein Großvater hat ihn mir gebaut. Ein Rohling aus Balsaholz, eine Tauchschaufel aus Plastik, drei japanische Drillinge, die schärfsten, die es gibt auf der Welt, Lack für das Muster. Das ist der Moment, in dem ich meine Deckung aufgebe. Jeder meiner Schritte soll bestimmt sein, selbstbewusst. Dieser Köder gehört mir allein. Ich werde ihn einfordern. Sie werden sagen, dass es ein schöner Wobbler sei, vielleicht der schönste, den sie je gesehen haben, und dass ich das nächste Mal wirklich besser darauf aufpassen müsse.
Gefunden ist Gefunden.
Verpiss dich.
Genau.
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Aus der Playlist
A9 Richtung Berlin, 6:12 Uhr, kurz vor der Abfahrt auf die B6, zur Linken die Elsteraue bei Ermlitz, über mir das Blinken eines frühen Flugzeugs, der Flughafen Halle-Leipzig ist nicht weit:
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(Sun Kil Moon. Carry me, Ohio.)
Alle Fotos: © Sebastian Komnick.