Glesiener Weg, Freirodaer Straße, Kursdorfer Ring. Ein paar Häuser stehen hier noch. Kein Auto, kein Mensch. In den Ruinen, in den Garagen: überall Katzen. Dass hier fast dreihundert Menschen wohnten, dass es eine Zeit gab ohne Flugzeuge, ohne Tower, ohne Schallschutzwand, eine Zeit, in der Kursdorf ein Ort wie jeder andere war, mit Feuerwehr, Fußballverein, Langeweile und ersten Küssen an der Bushaltestelle – schwer vorzustellen.
Zwanzig Meter hoch ist diese Wand. Dahinter die Start- und Landebahn 08/R 26L des Flughafens Halle-Leipzig. Ich könnte im Schutt vor dem Haus nach einem Stein suchen. Ich könnte werfen im richtigen Moment und eine Boeing treffen.
Auf dem Kursdorfer Ring treffe ich auf zwei um die siebzig. Was ich hier zu suchen habe. Dass ich mich bloß umschauen wolle. Dass ich neugierig sei. Die Blicke der beiden sagen: Ich bin nicht willkommen. Vielleicht haben sie schlechte Erfahrungen gemacht mit Randalierern, Fensterdieben, mit denen, die abschrauben, was abzuschrauben ist, die hier nachts auf die verlassenen Grundstücke gehen, Bäume fällen und das Feuerholz in Kleinbussen abtransportieren.
1990: 271
2001: 202
2002: 197
2006: 119
2007: 60
2009 37
2011: 23
2013: 12
(Quelle: Wikipedia)
Das Zimmer, in dem ich stehe, mit Blick auf Terrasse und Schallschutzwand, muss ein Wohnzimmer gewesen sein. 2005, 2006, als die Menschen hier vielleicht noch dachten: Man gewöhnt sich an alles. Jetzt ist es leer. Sie haben Kabel aus der Wand gerissen, die Heizung abmontiert, Lichtschalter mitgenommen, alles. Ein paar zerbrochene Regale liegen noch im Flur, auf ihnen und auch sonst überall: Schutt und Staub. Mein Telefon klingelt. Das Dröhnen der Triebwerke hinter der Schallschutzwand ist so laut, dass ich rufe: Später! Ich rufe später zurück!
Starten oder landen gerade keine Flugzeuge, dann ist es das endlose Rauschen der Autobahn, das an den Nerven frisst. Die A14 begrenzt Kursdorf im Norden, keine hundert Meter entfernt, parallel zur Zugstrecke Halle-Leipzig. Die Geräusche sind bald schon keine bloßen Geräusche mehr. Sie werden Kopfschmerz, werden Druck auf den Ohren und zur Annahme, man habe etwas Verdorbenes zu sich genommen, so fest zieht sich diese Schlinge um den Magen.
Als die Flugzeuge kamen, gingen die Menschen. Haus für Haus haben sie seitdem abgerissen. Auf dem Schutt dieser Häuser parken jetzt bis zu 500 Autos auf 12000 Quadratmetern. Dieser Ort trägt den Namen Low-Cost Parkplatz P20.
Später sehe ich die beiden wieder. Sie wollen zur Evangelischen Pfarrkirche Kursdorf, zum winzigen Friedhof dort. Ob hier noch Menschen wohnen. Ja, sagen sie. Ein Gärtner und eine alte Frau.