Ann-Christin Müller ist Illustratorin und Designerin, ihr Geld verdient sie als Art-Direktorin in einer Berliner Agentur. Paul Lichtenegger hat unter anderem Wirtschaftsingenieurwesen und Architektur studiert, lange bevor er seine Liebe zu Fotografie und Design zum Beruf gemacht hat. Gemeinsam haben sie 2010 ein neues Lesegerät entwickelt, das eigentümlich vertraut und innovativ zugleich wirkt: das Rollbuch. Es erinnert an ein Tablet, kommt aber ohne Strom und Akku aus und nimmt den Begriff des Scrollens wörtlich – eine auf zwei Spulen gespannte Papierrolle wird mithilfe einer kleinen Kurbel mechanisch hin- und hergerollt. Das technische Prinzip haben sich Ann-Christin und Paul bei alten Fotokameras abgeschaut: Nach jeder Aufnahme musste der Film mechanisch weitertransportiert werden.
Der Gedanke an ein Buch »mit endloser Seite in einem Kurbel-Kasten« kam ihnen zufällig, als Ann-Christin an dem illustrierten Kinderbuch Des Marders Flügel arbeitete, und obwohl die Idee dank Pauls handwerklichem Geschick und Materialwissen schnell konkrete Form annahm, mussten die beiden noch viel Zeit investieren und zahlreiche Hürden überwinden – technische, praktische und bürokratische –, ehe sie die ersten Rollbücher auf der Independent Book Fair 2012 in Hamburg präsentieren konnten: Das richtige Papier musste gefunden werden, damit es sich nicht ständig verkeilt und klemmt; beim Computerprogramm Indesign musste getrickst werden, da es auf wenige Meter beschränkt ist, die bedruckten Papierbänder aber über zwanzig Meter lang sein sollen, wenn die Geschichten oder Illustrationen es verlangen; eine Druckerei musste gefunden werden, die Bögen von solcher Länge überhaupt bedrucken kann; das verarbeitete Holz muss lang genug getrocknet und gelagert worden sein, damit es auch bei jahrelangem Gebrauch formstabil bleibt; für die Lager, wo die Bewegung stattfindet, muss ein spezieller verschleißarmer Hightech-Kunststoff verwendet werden, wie er auch im Maschinenbau zum Einsatz kommt; Nieten und Schrauben mussten durch einen Schiebemechanismus ersetzt werden, um ein rasches Wechseln der Papierbänder zu ermöglichen – und als für all das endlich Lösungen gefunden worden waren, musste ein Investor überzeugt und ein Patentanwalt engagiert und das Rollbuch samt seiner verschiedenen Muster als Marke eingetragen werden, um es vor Plagiatoren zu schützen.
Mittlerweile gibt es das Rollbuch in vielen verschiedenen Ausführungen: als Bausatz für Kinder, blanko mit integrierter Schublade und Schreib- und Malstiften zum Selbstgestalten, als illustriertes Kinderbuch, als handtellergroßes Lyrikbuch oder als limitiertes Kunstobjekt mit Kurbeln aus Aluminium, die auch als Sockel funktionieren, sodass das Rollbuch ins Regal gestellt werden kann. Die Kästen werden je nach Wunsch aus Ahorn, Sperrholz oder Metall gefertigt, und für ein besonders kleines Format wurde sogar eine Fischkonservendose recycelt.
Vor Kurzem hatten Ann-Christin und Paul die Idee, den Holzkasten des Rollbuchs auch als Resonanzkörper zu nutzen. Dazu bauten sie ihm eine Spieluhr ein und verbanden sie mit der Spule für die Papierrolle. Sobald nun die Kurbel des Rollbuchs bewegt wird, setzt die Musik ein. Je schneller man kurbelt, desto schneller spielt die Musik. So finden Bild und Text und Melodie zu einem Gesamtkunstwerk zusammen, das zahlreiche Variationen zulässt – Beschleunigung und Zeitlupe, Pause und Wiederholung, vorwärts und rückwärts. Nur eines erlaubt das Rollbuch nicht: Schummeln. »Seiten« zu überspringen, das Ende schon vorab zu lesen, ist praktisch unmöglich. Und es gibt ohnehin keine Seitenzahlen, was die Orientierung zwar erschwert, aber zu einer anderen Art von Leseerlebnis führt, das man – behelfsmäßig – filmisch nennen könnte. Wie in einer Plansequenz zeigt das Rollbuch dem Leser oder Betrachter eine abgeschlossene Handlung ohne Schnitte, ohne Seitenumbruch und ohne Blättern. So erzählt Florian Zietz die Abenteuer der Maus Ludwig van Leerdam auf der Suche nach Störtebekers Schatz in einer durchgehenden Illustration von beinahe 23 Metern Länge. Dadurch kann sich die Geschichte innerhalb eines Sichtfensters in einem Fluss entfalten. Besonders deutlich wird dieses veränderte Erzählprinzip bei den von Ann-Christin und Paul herausgegebenen Rollbüchern l’attente von Yannik Lüdemann und Die Wäscheleine von nebenan von Nataša Vučković: Die gewählten Sujets der Illustrationen – Warteschlange und Wäscheleine – nutzen die Möglichkeiten des Mediums kongenial aus.
Ann-Christin und Paul wollen in Zukunft regelmäßig neue Rollbücher publizieren und sind immer auf der Suche nach neuen Autoren und Illustratoren. Zu zweit kümmern sie sich um Programmgestaltung, Herstellung, Vertrieb und Presse. Nur Lizenznehmer haben sie bisher noch keine gefunden. Sie denken dabei an größere Verlage oder Spielzeughersteller, die das Rollbuch auch in Serie herstellen könnten, denn zurzeit wird noch jedes einzelne in Pauls Werkstatt in Kärnten von Hand gefertigt.