Kurz bevor Michel Foucault am 25. Juni 1984 an AIDS starb, hatte er noch druckfrische Exemplare des zweiten und des dritten Bands seiner Geschichte der Sexualität erhalten. Mit ihnen war die Fortsetzung eines Projekts sichtbar geworden, das 1976 mit dem Erscheinen Der Wille zum Wissen, dem ersten Band dieser Serie, auf dessen Buchrücken vier weitere Fortsetzungen annonciert waren, begonnen hatte. Nun entsprachen aber die Folgebände weder im Zuschnitt noch in den Gegenständen dem angekündigten Vorhaben. Statt wie geplant verschiedene Felder aus der spezifisch frühneuzeitlichen und modernen Erfahrung und Verwaltung der Sexualität zwischen Verwissenschaftlichung, Moralisierung und staatlicher Intervention zu untersuchen, hatte Foucault sich ab den späten 1970er Jahren für die antike Vorgeschichte dieser Phänomene interessiert. In Vorlesungen und kleineren Texten hatte er die Diskurse rings um das Selbst und seine Lüste in der griechischen und römischen Antike bis zum Umbruchspunkt zu Spätantike und Frühchristentum exponiert und hierzu umfangreiche Manuskripte angefertigt.
Was als Band 2 und 3 dieses Unternehmens 1984 zu lesen war, Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich, waren in sich geschlossene, im Gestus recht nüchterne Darstellungen der griechisch-römischen Diskussionen und Problematisierungen rings um die Frage, wie man sich als ethisches Subjekt zu seinen eigenen Lüsten zu verhalten habe, in welcher Haltung also der sich selbst beherrschende freie, besitzende Mann (um den es in diesen Elitendiskursen ausschließlich geht), sich selbst als einem begehrenden Wesen entgegentritt. Die historischen Befunde Foucaults erschienen hier gleichzeitig ganz spezifisch und auf faszinierende Weise von überzeitlichem Interesse: Die antike Sexualmoral schien weit weniger am Verbotenen und Gebotenen orientiert als an der Haltung und dem Ethos der beteiligten Subjekte interessiert. Das ethische Verhalten war immer auch Teil eines generellen Projekts von Selbstgestaltung und Selbststilisierung, einer »Ästhetik der Existenz«. Und die ethischen Problematisierungen des sexuellen Verhaltens waren nur ein Baustein einer allgemeineren Selbstkultur oder »Sorge um sich«, die sich kontinuierlich historisch veränderte, auch wenn die Verbote und Tabus weitgehend gleichblieben.
Aus den biographischen Quellen war bekannt, dass andere Teile dieses historischen Gesamtprojekts sogar schon früher abgearbeitet waren. Bereits im Herbst 1982 hatte Foucault ein vorläufig abgeschlossenes Manuskript zum Frühchristentum bei seinem französischen Verlagshaus Gallimard hinterlegt, an dessen Typoskript er während des Krankenhausaufenthalts in seinen letzten Monaten wieder gearbeitet hat. Er hätte noch zwei bis drei weitere Monate zur Fertigstellung gebraucht, soll er gesagt haben. Diese Zeit blieb ihm nicht, und so fiel das Manuskript unter die von ihm testamentarisch knapp verfügte Regel »keine posthumen Publikationen« und verschwand im Safe. Nur einige wenige Vertraute hatten Einblick erhalten, auch hatten einige kleinere Publikationen und Vorträge aus seinen letzten Lebensjahren Hinweise auf die Richtung dieser Forschung gegeben; das Werk selbst blieb jedoch unbekannt, ein Geheimnis. Dass es 2018 nach langem Zögern der Nachlassverwalter endlich erschienen ist, ist Zeugnis für das anhaltend große öffentliche Interesse an Foucault und die geistesgeschichtliche Bedeutung auch der bisher unveröffentlichten Texte. Auch dass sich der Rechtsstatus des Nachlasses verändert hat, er Forschern ohnehin allmählich zugänglich war und man eine inoffizielle Verbreitung auf lange Sicht kaum mehr hätte verhindern können, mag zu dieser Entscheidung zur Publikation beigetragen haben.
Die Geständnisse des Fleisches erscheinen nun in diesem Sommer, anderthalb Jahre nach dem französischen Original, auch auf Deutsch und die große Gemeinde der Foucault-Leserinnen und -Leser hierzulande kann sich ihr eigenes Bild machen. Der Text wirkt durchgearbeitet, aber nicht vollendet. Der Autor bleibt ganz nah am Material, kein Verweis auf die Rahmenthematik oder auf eine Relevanz jenseits des historischen Kontextes erleichtert die Lektüre. Foucault liest die frühchristlichen Kirchenväter ab dem zweiten Jahrhundert und notiert, welche Denk- und Definitionsanstrengungen sie unternehmen, um das Problem der Lüste und des Begehrens in den Griff zu bekommen, und er dokumentiert, wie sich eine ganze Lebens- und Weltauffassung neu erfindet und ausrichtet.
Die Themen, an denen sich diese Überlegungen entzünden, sind höchst spezifisch: die Beichte und das Bekenntnis, die Buß- und Taufpraktiken und -lehren, die mönchische Askese, das Verhältnis von Kloster und Laienleben, die Norm der Keuschheit und Jungfräulichkeit, die Ehemoral. An diesen Motiven verhandeln die frühchristlichen Autoren kontrovers und mehrstimmig das Verhältnis des Christen zur Lust, zum Körper, zur Fortpflanzung, zur Versuchung und zur Sünde. Und Foucault entdeckt bei allen Kontinuitäten zu den älteren, »heidnischen« Sexualmoralen einen entscheidenden neuen Akzent, nämlich die große Bedeutung, die Wahrheit, Erkennen und Gestehen für diese neue Erfahrung des Sexuellen haben, eine fast obsessive Emphase für die Selbsterforschung und das Aussprechen von Getanem und Gedachtem.
Bei dem großen Kirchenlehrer Augustinus kulminiert dieses Motiv in einer nun ganz methodisch konzipierten Lehre vom Begehrenssubjekt, das sich seiner selbst gewiss werden muss in einer, wie es auf der letzten Seite heißt, »Analytik des Subjekts der Begierde«. Das christliche und auch noch das postchristliche Subjekt muss sich seitdem, scheint Foucault nachzulegen, beständig selbst prüfen und befragen, was es von sich weiß und welche Regeln es zu übertreten droht. Die moderne Sexualwissenschaft, die Psychiatrie, die Psychoanalyse und die Therapiekultur sind, dies darf man mit Blick auf Foucaults andere Schriften zu diesem Thema vermuten, gewissermaßen institutionelle und praktische Spätfolgen dieser Christianisierung der Sexualität. Denn seit damals »sind durch Bande, die unsere Kultur eher gestrafft als gelöst hat, der Sex, die Wahrheit und das Recht miteinander verbunden«.
Löst Die Geständnisse des Fleisches nach fast 35 Jahren die Erwartungen an einen neuen großen, bedeutenden Foucault-Text ein? Auf der einen Seite wirkt das Werk, wie schon angedeutet, spröde, fast abweisend in seinem ultraarchivarischen Gestus, es präsentiert mit maximaler interpretatorischer Zurückhaltung Argumentationsformen, die fremd und vergangen wirken könnten. Und in erster Linie schließt sich hier nur eine letzte historische Lücke, die das großangelegte Projekt einer »Geschichte der Sexualität« noch gelassen hatte. Auf der anderen Seite ist aber vielleicht heute so deutlich wie nie zuvor, dass selbst noch die Sexualität der Gegenwart in genau den Bezugsrahmen lokalisiert ist, nach deren Wurzeln Foucault so beharrlich gegraben hat: zwischen Lust und Moral, zwischen Recht und Macht, zwischen Körper und Religion, zwischen Tabu und Thematisierungsdruck. Wer dieses historische Reflexionsangebot annimmt, wird sicher anders über die epochale Revision der Geschlechterverhältnisse in unseren Gesellschaften, für die »#Metoo« steht, und über den moralischen Abgrund, der sich in den Missbrauchsskandalen im kirchlichen Kontext auftut, nachdenken. Diese Reflexion auf die langen historischen Einflusslinien und die weitgespannten Kontexte unserer Gegenwart löst zwar kein einziges heutiges Problem, doch erlaubt sie es vielleicht, uns selbst ein kleines bisschen besser zu verstehen.
Dieser Text erschien erstmals in der Philosophie-Magazin-Sonderausgabe »Michel Foucault: Der Wille zur Wahrheit«.