Regen im Tal. Die Landschaft grün und braun. Ich fuhr ans östliche Ende der Alpen, dort war ich aufgewachsen. Straßen und Flüsse, Wiesen, Waldhänge, Feldwege und Ortsdurchfahrten – ob die Hänge steil, das Tal eng oder breit, die Ortschaften groß oder klein waren, weit deutlicher als alle Unterschiede war etwas Immergleiches. Nicht der Regen war es, die Schlieren der Scheibenwischer oder das eintönige Grau des Tages, es waren die Einfamilienhäuser. Kein Traum war hier seit dem letzten Weltkrieg wirkmächtiger gewesen als der vom eigenen Heim. Und kein Traum blinder. Wie viele neu asphaltierte Straßen, Gassen und Zufahrten dies Jahr für Jahr erforderte, wie oft nicht nur ein einziges Auto pro Haushalt nötig war, sondern meist gleich zwei, blieb selbst in Zeiten des nahenden Klimakollapses unausgesprochen. Dass nicht wenige der notwendigen Flächenwidmungen auf verschwiegene Weise geschahen und die Politik sich auf allen Ebenen hütete, ordnend oder gar planend einzugreifen, erklärte die stille Unaufhaltsamkeit solchen Raumgreifens nur am Rande. Es hatte viel eher damit zu tun, wie achtlos gegenüber nächster Umgebung, Landschaft, aber auch Überlieferung und Tradition gebaut wurde. Als hätten diese Häuser mit keinem Außen etwas zu tun, wären nur für ihr Innen von Bedeutung als sich selbst genügende Welten.
Es war die Zeit der Einkaufsfahrten, wie mir das blinde Wissen des auf dem Land Aufgewachsenen sagte, auch wenn eigentlich nur das Klischee der entgegenkommenden Frauen am Steuer ihrer Familienzweitwägen dafür als Indiz diente. Die Straßen glänzten vor Nässe, und allein die Tatsache, dass die Fassaden immer greller gestrichen waren, je weiter die Täler wurden, je flacher das Land und je näher ich meinem Heimatbundesland kam, erzeugte noch das Gefühl einer Strecke. Ich fuhr durch den Regen und fuhr durch ein Meer. Hilflos lugten Kirch- oder Feuerwehrtürme daraus hervor, verschwanden darin ebenso wie das, was sich ringsum einmal als grüne Wiese, Weide- und Ackerland oder auch Industriegebiet abgesetzt hatte. Heute blieben immer öfter nur die hell beleuchteten Brachen von Tankstellen, Supermärkten oder Autohäusern samt ihren Parkplätzen als letztem Dazwischen.
Irgendwo in einem der Täler auf meinem Weg in Richtung Nordosten, irgendwo in diesem zähen Brei erinnerte ich mich an den vor Jahren absolvierten Gefängnisbesuch. Als letzte Abteilung bekam ich damals die zu sehen, in der über fünfzehn oder zwanzig Jahre jene eingesperrt waren, die der Jargon Langstrafige nannte. Die meisten von ihnen waren Mörder, und tatsächlich unterschieden sie sich auf den ersten Blick von all den anderen Häftlingen. Nicht, dass sie derber, grober, gefährlicher oder böser aussahen – im Gegenteil: In ihren Gesichtern leuchtete oft etwas Kindliches, ja, etwas Liebes. Doch waren ihre Körper fast alle von einer Muskulatur überwuchert, deren Fülle zwar erstaunte, aber keineswegs Angst machte, nicht stark wirkte, sondern nur aufgeblasen. Hilflos sahen sie aus, als wären sie darin ein zweites Mal gefangen. Ausweglos in ihrem Inneren, obwohl gerade das, was sie so einzwängte, vermutlich von einem ebenso verzweifelten wie blinden Drang nach Raumgewinn erzählte. Von einem großen Versteck in sich selbst.
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Wie an jedem dieser Tage meiner Reise, unabhängig vom Zeitpunkt der Abfahrt oder der Länge meiner Strecke, steuerte ich auch an diesem direkt in die Abenddämmerung hinein. Das lag natürlich an der Kürze der Tage selbst. Aber auch ‒ eine Spur weniger greifbar ‒ daran, welche Stimmung, welche Farbe der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr unabhängig von der jeweiligen Witterung anhaftete. In meinem Fall spitzte die Art der Reise diesen Eindruck noch zu, vielleicht aber auch nur meine Umständlichkeit: Um morgens nach einer ebenso hastigen wie gründlichen Katzenwäsche in die Kleidung schlüpfen zu können, musste sie zuvor im Schlafsack vom eigenen Körper aufgewärmt werden. Danach setzte ich mich, immer noch vom Schlafsack umhüllt, auf den Fahrersitz, startete den Motor, um den Wagen aufzuheizen, nahm am umgelegten Beifahrersitz den Wasserkocher in Betrieb, schaute hinaus, sah den Leuten zu, dem Wettertreiben, trank heißen Tee und aß Müsli. Ob an einem Parkplatz mitten im Ort, vor dem Portal eines Kindergartens oder neben einem Sportplatz – stets stand ich unweit einer Langlaufloipe. Meine Skier und Stöcke warteten im Rückraum des Wagens neben dem Schlafplatz. Der Sport war eine verlässliche Tarnkappe für Begegnungen mit Leuten, deren Blick auf die Welt, auf Glück und Leben zwar kein völlig anderer war, oft aber deren politische Einstellung, ihre Schuldzuweisungsmechanismen, ihre Angst und Wut. Auf dieser Reise hatte ich keine derartige Recherche zum Ziel, vielmehr die so vage wie utopische Vorstellung vor Augen, durch andere, weniger greifbare Membranen in dieses Land vorzudringen. Weshalb auch die Sportmontur höchstens ein Undercover vor mir selbst war, eher eine Narren- denn eine Tarnkappe.
An diesem Tag war ich im Dunkeln noch ein zweites Mal in meine Montur geschlüpft. Die dicken Wolken, die dicken Flocken sorgten für eine Stille, in der selbst das Zischen der Skier oder die unregelmäßigen Windböen sofort wieder verschluckt wurden. So nah der Vollmond an diesem Abend auch war, so schneegierig lief ich im Lichtkegel meiner Stirnlampe. Runde um Runde fand ich meine eigenen Spuren nur mehr als leichte Dellen in der frischen Schneedecke, Ahnungen ähnlicher Fährten denn einer tatsächlichen. Während der ersten Stunde passierte lediglich ein einziger Wagen die vorbeiführende Straße. Der zweite, ein Fahrzeug der Straßenmeisterei, kam erst eine knappe Stunde später. Unweit des Loipeneinstiegs hielt er, zwei Männer stiegen aus und hantierten an einem Verkehrsschild. Dass es sich um die Tafel zur Anzeige der Kettenpflicht für jene lange steile Passage handelte, die in mein Heimattal hinunterführte, erkannte ich erst auf dem Rückweg zu meinem VW-Bus. Seit jeher war dies bei Schneefall der erste kritische Abschnitt weit und breit. Ich hatte es gerade noch rechtzeitig heraufgeschafft. Während meiner letzten Runde kam kein Auto mehr, weder von der einen, noch von der anderen Seite. Und auch keine Windböen, nur der stille Schneefall und ich.
Umso mehr überraschte mich ein hastig auftauchender Wagen, als ich mit abgeschnallten Skiern schließlich die Straße überquerte. Er steuerte den Parkplatz an, wendete in harscher Bewegung und hielt, ohne einzuparken, mit in meine Richtung aufgeblendeten Lichtern. Zwei Männer stiegen aus, einer ging sofort auf mich zu, der andere blieb ans Auto gelehnt stehen. Offene Anoraks, Arbeitslatzhosen, schwere Schuhe, ihre Blicke beharrlich auf mich gerichtet. Beide waren sie bullig. Ich durfte nicht ausweichen, wusste ich instinktiv. Das war kein falscher Stolz, sondern Vorsicht, um nichts in meinen Rücken oder an die Seite zu bekommen. Ich grüßte, der eine, der raschen Schrittes näher gekommen war, blieb einen Meter vor mir stehen, schien fast zu platzen, zwang sich zu einer Antwort. Lieber hätte er mich gleich angeherrscht: Was ich mir denn einbilde, im Dunkeln mit Lampe zu laufen, ob ich nicht wisse, dass die Loipe um vier Uhr schließe? Ich solle von Glück reden, dass kein Jäger mich erwischt habe! – Was mir dann geblüht hätte, formulierte er nicht, mir genügte jedoch sein Atem, um mir vorzustellen, wie gern er jetzt selbst ein solcher Jäger wäre. Ihn im Gegenzug zu fragen, wer er eigentlich sei und in welcher Funktion er mich anspreche, hätte ihm eine solche Verwandlung wohl auf der Stelle ermöglicht. Stattdessen entschuldigte ich mich und wusste, dass nun der brenzligste Moment folgte. Dass seine Wut noch einmal als Irrlicht aufflackerte, war kein gutes Zeichen. Es lag an mir, das Gespräch rasch zu beenden und zu gehen. Am besten antwortete ich ihm mit einem deutlichen Anklang von Dialekt und auch nicht mit zu vielen Worten. Ein kurzes Umreißen des Geschehens, eine sachlich klingende Wiederholung der Entschuldigung, nicht mehr, sonst würde ihm deutlich werden, wie schnell er verstummt war, und er würde auf der Stelle zuschlagen, selbst wenn er damit doch nur sich selbst gemeint hätte.
Weiß, unberührt die Fahrbahn vor mir, kilometerweit. Die wenigen Häuser geduckt, alt und meist an Stellen, die man sich nicht freiwillig ausgesucht haben konnte. Angesichts der flächendeckenden Bebauung anderswo nannte man solche Gebiete heute Idyllen. Passierte man die Gebäude der Forstverwaltung und las den Adelsnamen der Landbesitzer, wusste man schon eher, wo man war.