Das Dach der Tankstelle ragte leuchtend in den Abendhimmel. Der erste Tag des Jahres. Am Spätnachmittag kam in den Radionachrichten die Mitteilung, die neue Regierung habe per Umlaufbeschluss die wichtigste Beschäftigungsinitiative für ältere Arbeitssuchende aufgehoben. Eine Imponiergeste, adressiert an den im Wahlkampf stets zitierten kleinen Mann. Die so genannte starke Hand hatte sich der kleine Mann gewünscht. Sogar, wenn sie sich gegen ihn richtete. Hierzulande war der kleine Mann tatsächlich meist männlich. Am Neujahrstag begegnete ich ihm in einem Tankstellen-Shop. Er war nicht klein, trug einen Rucksack aus Zeltstoff und eine Tarnuniform, wie sie in Army-Shops erhältlich sind. Er holte Bier, war freundlich und wohl nicht nur heute betrunken. Auf seltsam deutliche Weise wirkten die eingestreuten Witze bemüht.
Im Unterschied zu den Tagen davor hatte ich am Neujahrstag ein Ziel. Eine Ortschaft in den Hügeln südöstlich der Festivalhauptstadt. Der Grund dafür war einfach, es gab dort eine Flutlichtloipe. Doch vorher musste ich in die Stadt, nach einer Woche war der Besuch eines Waschsalons überfällig. Am Südrand hatte einer als einziges Geschäft eines Einkaufszentrums auch am Feiertag geöffnet. Trotz vollautomatischer und per Geldeinwurf zu betreibender Maschinen saß in einem Hinterzimmer ein Mann im Mantel und versah vor einem halblaut laufenden TV-Apparat seinen Dienst. Angesichts solcher Geräte und ihrer Bedienungsanleitungen waren Fragen meinerseits stets unvermeidlich, der Mann beantwortete jede, war sogar freundlich. An der Trostlosigkeit änderte es nichts, Waschsalon, Mann, Bildschirme, Neonlicht und menschenleeres Einkaufszentrum. Ich war froh, als ich fertig war, und entschied mich für die direkte Route über die Landstraße.
Wälder und Felsabhänge glitzerten im Licht des Vollmonds silbrig, weißer Nebel füllte die Schlucht fast bis zur in den Fels gesprengten Straße. Silbrig auch die Fahrbahn, silbrig und eisglatt. Ich fuhr im Schritttempo. So wie seit Kilometern, als ich nach einer kleinen Siedlung über eine Kuppe gekommen war: Vor mir ein langgezogenes Talbecken. Ich staunte über das Weiß des Nebels im Mondlicht. In dem Moment schien der Wagen jeden Bodenkontakt verloren zu haben, so leicht, so unkontrollierbar fühlte er sich an. Einzig meiner von Tag zu Tag ruhiger geworden Fahrweise war es geschuldet, dass mich nicht Augenblicke später das ganze Gewicht des Wagens hinabgezogen und irgendwo im tief abfallenden Straßengraben hatte aufprallen lassen. Mit keinem anderen Bewusstsein, wenn überhaupt noch, als der offenen und vielleicht letzten Wärme meiner eigenen Verletzlichkeit.
In der Ortschaft an der Flutlichtloipe war es still. Unweit des Loipeneinstiegs, am Parkplatz der Volks- und Hauptschule, fiel mir im Vorbeifahren ein idealer Übernachtungsplatz ins Auge. Offenbar entwickelte ich allmählich einen Sinn dafür. Das war nicht immer so gewesen: Parkte ich vor ein paar Tagen noch direkt neben dem Zieleinlauf der Nordischen Ski-WM 1999, genau wie ich es mir vorgestellt hatte, so retteten mich am nächsten Tag auf dem Areal des Sanatoriums von St. Veit im Pongau lediglich die unübersehbaren Campierverbotsschilder vor der Possierlichkeit einer Thomas-Bernhard-Gedenkübernachtung. Tatsächlich hatte ich eine solche in Betracht gezogen. Dass es dann der Parkplatz vor einem Kindergarten wurde, passte gut.
Einmal hatte ich sogar aufgegeben. Just dort, wo ich mich am besten auskannte, in meinem Heimatbundesland. Entweder war mir die Begegnung mit dem Forstarbeiter in der ersten Finsternis noch zu sehr im Nacken gesessen oder es war der Schneefall, der die Möglichkeiten von Stunde zu Stunde mehr einschränkt hatte. Die einzigen vom Schneepflug bereits geräumten Stellplätze in den beiden Ortschaften an der Grenze zum Nachbarbundesland waren taghell beleuchtete Liftparkplätze gewesen. Noch Tage später verfolgte mich die Vorstellung von Gestalten in weißen Raumfahreranzügen, die in leichten, weiten Sprüngen durchs Areal schwebten. Ich war die Ortschaften einige Male abgefahren, ebenso den nahen See, auf dessen Uferstraßen-Parkplätzen ich mich bereits aufwachen gesehen hatte. Doch auch hier hatte die Schneeräumung lediglich einen einzigen Fahrbahnstreifen gepflügt. Wider besseren Wissens fuhr ich noch einige unbewohnte Nebentäler ab, bog in den Tiefschnee von Güterwegen. Ein Leichtsinn, der im gewichtlosen Weiß des Neuschnees aber nicht bestraft wurde. Übernachtungsplatz fand sich im Abgelegenen erst recht keiner.
Ich fuhr zurück in den größeren der beiden Orte und erkundigte mich beim nächstbesten Gasthof nach einem Zimmer. Der Wirt war bereits am Putzen der Theke, zuckte nur mit den Schultern, alles voll. Bei ihm wie bei den Nachbarn. Doch auf seinem Parkplatz sei es kein Problem. Die Vorstellung gefiel ihm, und er wirkte sogar neidisch, als er mir hinterherschickte, eine solche Nacht sei sicher eindrücklicher als eine im Grand Hotel. Im Gasthaus gingen die Lichter aus, auf dem Parkplatz gegenüber schloss ich die behelfsmäßige Verdunkelung im Hinterraum meines VW-Busses und schlüpfte in den Schlafsack. Für ein paar Augenblicke war der Wirt vielleicht noch an einem der dunklen Fenster gestanden, hatte zwischen den Vorhängen auf den weißen Wagen im Schnee gelugt, den Lichtpunkt meiner Stirnlampe gesehen. Wovon mochte er träumen, fragte ich mich beim Einschlafen und war mir keinen Augenblick lang beobachtet vorgekommen.
Der Mond stand hoch, als die Flutlichter am Ortsrand ausgingen. Verlässlich meldete sich nach dem Training der Hunger. Die Stille im Ort ließ mich bereits ein Müsliriegel-Abendessen befürchten, doch in der Gaststube des kleinen Hotels am Hauptplatz brannte Licht. Sie war nicht nur voll, sondern auch verqualmt. Im Eck stand eine Jukebox. Schon gab es kein Zurück mehr, obwohl offenkundig war, wie viel Alkohol hier in den letzten Stunden geflossen sein musste. Ich kannte solche Orte und ihre Stimmungen. In meinem Heimatort hatte es ebenfalls nur Wirtshäuser gegeben, keine Bar, schon gar keine Disco, und von den beiden so genannten Cafés war das eine eine biedere Konditorei und das andere ein Wirtshaus. Trotzdem brachte mich etwas zum Stutzen. Nicht die Betrunkenheit, nicht die Jukebox. Ich hatte zwei Schinken-Käse-Toasts und ein kleines Bier bestellt. Schon beim Anblick der Runde an dem zur Tischreihe verlängerten Stammtisch-Eck schaltete ich in meinen Dialektmodus: Griaß eich … So war ich aufgewachsen. In solchen Augenblicken war es besser, kein Wiener zu sein, auch sonst kein Städter, im Grunde überhaupt kein Fremder. Duzen half, es musste nur beiläufig genug sein, als kannte man die Szenerie seit Jahr und Tag.
An dem langen Tisch saßen lauter Männer, kaum erwachsene ebenso wie ältere. Betrunken waren sie alle, einige schliefen mit dem Kopf auf dem Tisch, schreckten nicht einmal hoch, wenn es laut wurde. Sie trugen keine Uniform, trotzdem tippte ich auf Feuerwehr oder Schützenverein. Nichts daran verwunderte mich, so außergewöhnlich Alkoholisierungsgrad, Haltlosigkeit und auch die Selbstverständlichkeit waren, mit der die noch Sitzenden einander über die wie tot am Tisch Liegenden hinweg Wörter zuwarfen, Halbsätze, lallend, mit kippenden Stimmen, ins Hysterische ebenso wie in brummende Grunztöne fallend, die klangen, als könnten einzelne Körperteile eigenständig einschlafen. Die Schläfer waren allesamt jung, während unter den Älteren unverkennbar auch solche waren, die zu den Ehrenwerten im Ort gehörten. Wenn nicht der Bürgermeister selbst, so zumindest sein Vorgänger, ein Feuerwehrkommandant oder Skivereinsobmann, ein wohlbestallter Handwerksbetriebsbesitzer sowie der eine oder andere größere Bauer und Grundstücksbesitzer. Die tot schlafenden Jungen kümmerten sie alle nicht. Niemand passte hier aufeinander auf, sie sahen einander nicht einmal an, sie schauten im Grunde überhaupt nicht aus sich selbst heraus, reagierten nur auf Reize, reagierten nur auf das Eigene, konnten selbst von der größten Menge Alkohol nicht mehr aus der Fassung gebracht werden.
Am Nebentisch saßen Hotelgäste. Zwei Paare mittleren Alters und ein sehr junges. Die beiden älteren Männer in regional nicht zuordenbarer, doch exklusiver Tracht. Beide rauchten Zigarren. Ihre Frauen sprachen nicht viel, ebenso wenig die jungen Leute. Seiner Physiognomie, Mimik und Gestik nach war der junge Mann unverkennbar der Sohn eines der älteren Männer. Bei jedem Zug an der Zigarette spitzte er seine Lippen, als küsste er sie, fast spiegelbildlich zu seinem Vater. Dass auch die beiden älteren Männer nicht viel redeten, fiel mir erst nach einiger Zeit auf. Tatsächlich las ich ihren Tonfall zuerst an ihren Gesichtern ab, an ihrer Haltung, an der Art, wie sie ihre Bäuche genüsslich herausstreckten, in ihren Stühlen lehnten, und an dem kleinen Blick aus ihren Augen. Wenn es so etwas überhaupt gab, war das, was ich an ihnen sah, freudiger Zynismus. Eine der beiden Frauen fütterte immer wieder die Jukebox, machte keinen Unterscheid zwischen Helene Fischer, Creedence Clearwater Revival, Roland Gabalier oder den Rolling Stones, kam jedes Mal wieder mit demselben beseelten Lächeln an den Tisch zurück, wo sie dann erneut kein Wort sprach.
Nichts an all dem wunderte mich. Nichts ließ mich rätseln. Nicht der ostdeutsche Dialekt und die Genüsslichkeit der beiden Männer in dieser nicht nur aufgrund des Rauchs und Alkohols engen Gaststube. So stellte ich mir Politiker der neuen Rechten zu Feierabend vor. Unverhohlen zufrieden inmitten der von ihnen erzeugten Abgestumpftheit. Zu befürchten hatten sie nichts. So klar sich ihre Politik gegen jene immer weiter wachsende Bevölkerungsschicht wandte, die sie gönnerhaft unter dem Begriff des kleinen Mannes fasste, so gründlich sie jeden Blick auf ein besseres Leben verstellte, war keinerlei Gefahr eines Aufbegehrens gegeben. Blickdicht schirmte der wieder zu entsetzlicher Konjunktur gekommene gesunde Menschenverstand vor allen Träumen oder Utopien ab. Ob Flüchtlinge, Frauen oder neuerdings auch Arbeitslose, für Gelegenheiten, um blindlings nach unten zu treten, anstatt die Faust nach oben zu ballen, wurde gesorgt.
Ich hatte mein Notizbuch aus der Tasche genommen, wusste, dass es als Zeichen genügte. Am langen Tisch wurde gelallt, brachen die meisten Sätze wie Stummel einfach nur ab, hatte der Alkohol alles überzogen. Die beiden Männer mit ihren Zigarren sahen mich kurz an. Ich bildete mir ein, kurz verhärtete sich ihr Blick, einen Moment später war es bereits breiter Stolz, mit dem sie sich umso lustvoller in ihrem Paffen präsentierten. Wie inszeniert fügte sich in mein Bild, dass der an ihren Tisch eilende Kellner eine angesichts seines grauen Ansatzes eigens gefärbt wirkende Hitlerfrisur trug und einen dementsprechenden Bart. Sogar aus seinen Gesichtszügen sprang mir die Imitation so deckungsgleich entgegen, als befände ich mich in einem Traum. So stand er leicht vorgebeugt bei Tisch und legte seine Hand im Annehmen neuer Bestellungen genüsslich über die linke Pobacke.
Das war die Wirklichkeit. Vielleicht war darin auch alles anders, als ich es sah. Sicher war nur, dass es lang genug Perspektiven wie meine gewesen waren, die maßgeblich zu Utopieverlust, Illusionslosigkeit, Abgestumpftheit und Verrohung weiter Bevölkerungsteile beigetragen hatten. Begonnen dort, wo die korrekte Benennung von Randgruppen und Minderheiten abseits ihrer fraglosen Notwendigkeit auch Ersatzhandlungen waren, während Umverteilung, Solidarität und Aufklärung bestenfalls noch auf dem Papier gefordert, im politischen Tagesgeschäft jedoch zu zahmen Lückenbüßern des kapitalistischen Systems wurden.
Ob in dieser Gaststube oder in einer anderen, ähnlichen. In der Realität angekommen war ich längst angesichts des am Nachbartisch vielleicht bloß für mein Notizbuch lancierten Judenwitzes. Im Inneren eines Landes, in dem es nicht weiter angehen konnte, von seiner Kenntlichkeit lediglich als Entstellung zu reden. Viel zu gefällig das Bild der Bühne, auf der es nun wieder seine Weltuntergangskomödie spielte. Es brauchte keine Masken mehr, wenn sich die Gegenwart auf eine Weise jedweder Zuspitzung entzog, dass selbst die größten, bösesten und lustvollsten Übertreibungen Thomas Bernhards sich ansatzlos in Luft auflösten: Erstickt und erfroren an ihrem eigenen Spiegelbild.