Am nächsten Morgen weiß ich nicht wohin. Ich suche wahrscheinlich nach einer Bestätigung meiner Vorurteile oder nach deutlichem Widerspruch, ich suche den Witz oder das Elend, nach einer Erfahrung einerseits, die mich unversehrt lässt, andererseits: Individualkatastrophentouristenlos. Alles falsch.
Weil mir an bummelnden Konsumenten nichts auffällt, fahre ich raus aus der Innenstadt, und plötzlich sind die Häuser klein und schlicht, manche Straßen aufgerissen oder ungesichert. Ich habe hier nichts zu suchen. Was mir auffällt, dass ich auffalle. Die Neugier macht verdächtig, sie ist im Alltag nicht vorgesehen. Wer auf Nebensachen schauen kann, genießt ein Privileg. Wer den Verfall verklärt, ist schlecht romantisch. Keine Beobachtung ist unschuldig, das Objekt wird gerichtet. Da wollte ich einmal weg von mir und werde stattdessen deutlicher zurückgeworfen auf das, was zuckt bei jeder Verstörung: das verwöhnte Wesen.
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Adorno gibt auf, sich von der Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen. Selten habe ich mich dümmer gefühlt als hier.
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Mehr Privatisierung, Liberalisierung, Globalisierung, Individualisierung, Gentrifizierung, und dann strampelt es sich vermutlich auch hier gedämpft und gefedert und geschützt vor dem Kontakt mit denen, vor denen das Strampeln die Strampelnden bewahren soll.
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»Schuld am Ruin der Welt ist, machen wir es kurz, der Kapitalismus.« (Marcus Twellmann, Denken wie ein Pilz).
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Rumänien wird auch das Schmuddelkind Europas genannt. Im letzten Weltkrieg hitlertreu bis in den Untergang, brutal selbstherrlich unter Ceausescu, schwerfällig bei der Wende danach und die aktuelle Regierung schlug vor Kurzem ein Gesetz vor, nach dem Korruption in Maßen nicht weiter verfolgt werden solle. Dagegen demonstrierten 60 000 auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude, dem Siegesplatz am Ende der Siegesstraße. Kurz darauf werden die Löhne in Behörden und Staatsbetrieben um 30 % erhöht. Man besticht diejenigen, die gegen Bestechung protestieren. Und wer sich jetzt noch beschwert, ist ein Idiot. Im Theater führt dieser Einfall dazu, dass am Bühnenbild gespart werden muss, um die überraschenden Lohnerhöhungen bezahlen zu können, erzählt Vanda aus Craiova. »Wir waren immer die Ärmsten, Korruptesten oder Kriminellsten in Europa. Und halten uns deshalb gelegentlich für besonders großartig. Rumänien ist bipolar«, meint Vlad. »Hier interessieren sich 10 % der Leute für Politik, der Rest erträgt jede Regierung«, schätzt Ion von der Technik, »für aggressiven Nationalismus fehlen uns die Ausländer. Und die Zigeuner (Roma sagt er nicht, und meine Anmerkung bleibt unverständlich) kennen es nicht anders.« »Jetzt sind die Ungarn die Bösen. Wir wollen nur richtig mitmachen dürfen bei der EU«, noch einmal Vlad in einer Runde über Stolz und Vorurteil. Der fremde Blick wird immer mitgedacht bei der Selbstverortung. »Wir genießen noch, was für Euch schon zu lange Normalität ist«, sagt Maria draußen in einem verfallenen Innenhof, der von einem Künstlerkollektiv zu einer temporären Gaststätte umgestaltet worden ist. »Es ist, als ob es nur kurze Zeit noch dauern könnte, bis wir erfahren, warum wir leben«, sagt Olga bei Tschechow.
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Am Mittag führen mich Vlad und die Bühnenbildnerin Vanda durch ihre Stadt. DIE STRASSE DES SIEGES IST LANG. Die Straße des Sieges ist lang und laut und heftig befahren und gepflastert mit Geschichten. Vor dem Ministerium, auf dessen Balkon Ceausescu seine letzte öffentliche Rede gehalten hat, ist das Denkmal der Wiedergeburt errichtet. Vom Dach des Ministeriums musste Ceausescu mit einem Hubschrauber fliehen, verstört von den Protesten. Der Platz heißt jetzt »Platz der Revolution«, das Denkmal ist eine Marmorsäule, die nach oben spitz zuläuft und kurz vor ihrem Ende durch ein drahtiges Nest, ein lädiertes Netz oder eine deformierte Weltkugel stößt. Hier wurde Geschichte gemacht. Meine jungen Begleiter spotten über das Pathos der Darstellung. Denn sehr spät und sehr zaghaft haben die Ausgebeuteten aufgemuckt gegen einen offensichtlich verblendeten Despoten, so ihre Version der Geschichte. Und gleich in der nächsten Wahl wieder die Kommunisten gewählt. Im jungen Volksmund nennt man das Denkmal »Die Revolution der Kartoffel« (wenn ich es richtig verstanden habe).
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Ein Mann fotografiert Kirschblüten. Die Unordnung dahinter versucht er durch Positionswechsel aus dem Bild zu verbannen. Voller kann die Blüte nicht mehr werden. Das Bild schickt der Mann seiner Liebsten: Die Blüten sind wie wir. Bald werden sie vergangen sein. Fotografieren als vorsorgliche Trauerarbeit.
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Vlad und ich reden über die Inszenierung, Pläne, weitere Stücke. Die schönste Freundschaft hat ein Vorhaben. Und die zwei Freunde erkennen einander im Erfinden, kritisieren einander über die Arbeit und bewundern hoffentlich das gemeinsame Schaffen. Die allerschönste Freundschaft ist das Vorhaben selbst. Wir basteln uns zusammen ohne Grund und ohne Absicht. Bloße Neugier, was wir werden könnten. Langsame Neugier.
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Fotos schießen darf man jederzeit, Notizen schreiben aber ist unheimlich, weil der Referent nicht eindeutig ist: Habe ich etwas Originelles gesagt? Etwas Typisches? Dummes? Handelt diese Deine Niederschrift gar nicht von mir?, schaut mich das Gegenüber stumm verunsichert an, und ich versichere ihm, ebenfalls stumm, dass es weiterhin um uns gehe, und verrate nicht, dass ich bloß an Tschechow gedacht habe.
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Vorläufiges Endergebnis meiner komparatistischen Theatertextstudien: Tschechow passt, gewartet wird immer. Beckett ebenfalls, so viel Anfang war nie. Thomas Bernhard klingt in Bukarest wie ein sehr zentraleuropäischer Hausmeister (getestet auf dem Hotelbalkon), Handke ist zu oft zu verstrickt in seine Privatmythologie, der Dramatiker Adorno stimmt weiter kämpferisch (an der Straßenbahnhaltestelle vor der Patriarchalkathedrale Sankt Konstantin): »Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.«
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Einmal dann doch treffe ich auf Straßenkinder etwas weiter draußen. Zwei Jungen und drei Mädchen, zwischen zehn und 14 Jahren, schätze ich. Im Gang schon meine ich sehen zu können, dass kein Zuhause wartet und keine Eltern ihren Weg bestimmen. Die Sportkleidung ist dreckig und verschlissen, ziellos ziehen sie vorbei ohne einen Blick, schwere Taschen mit leeren Flaschen über den Schultern. (Im Kampf wäre ich ihnen unterlegen.) Kurz darauf kommen die Eltern nach und sehen ähnlich aus, bloß älter und kälter.
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»Die Musik spielt so lustig und vergnügt, man spürt förmlich die Lust zu leben! O mein Gott! Eine kurze Spanne Zeit wird vergehen, und wir werden für immer davongehen, man wird uns vergessen, wird unsre Gesichter, unsre Stimmen vergessen, wird vergessen, wie viel unser waren, – aber unsere Leiden werden sich in Freude wandeln für jene, die nach uns leben werden. Glück und Friede wird auf Erden sein, und man wird derer, die jetzt leben, in Dankbarkeit gedenken und sie segnen. O, meine lieben Schwestern, unser Leben ist noch nicht zu Ende! Wir werden leben! Die Musik spielt so lustig, so freudig, und es ist, als ob es nur kurze Zeit noch dauern könne, bis wir erfahren, warum wir leben, warum wir leiden … Wenn wir’s doch wüßten, wenn wir’s doch wüßten!«
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Am Sonntag kommt auch noch der Frühling. Und die Kinder spielen im Park am Arcul de Triumf, als gäbe es kein Morgen, und das Gras grünt grenzenlos. Beim Abschiedsbummel orientiere ich mich am Gehör. Aus den orthodoxen Kirchen hört man die Predigt des Popen und die Gesänge des Männerchores, weil sie per Lautsprecher nach draußen übertragen werden, weil die Kirchen übervoll sind, obwohl die meisten der Gläubigen stehen. Ich lasse mich leiten von den Gottesdienstgeräuschen, denn weiter als 500 Meter braucht es hier selten von Kirche zu Kirche.
Biserica Rusă ist vollständig eingerüstet von einem Holzgestell und trotzdem in Betrieb. Ich setze mich in den Garten und schaue, wie die Gläubigen ein- und ausgehen, ähnlich unverkrampft wie gestern beim Theater. Es wird auch geredet und telefoniert im Garten, dazwischen Bekreuzigung und Begrüßung der Bekannten. Erst gegen Ende wird es ernster, auch die Kleinkinder werden zum Schweigen gebracht, ein wichtiges Gebet ist im Gange. Am schönsten ist der Mensch (in diesem Fall ein schmaler Jüngling im Anzug, der seinen Blick fest in den Himmel gerichtet hält) in Begeisterung oder in Demut. Am allerschönsten in beidem zugleich. Das gilt im Theater wie in der Kirche. Auch wenn nichts daraus folgen mag im Alltag oder beim nächsten Betrug.