Als Du zur Welt gebracht wurdest, saß ich nutzlos auf einem Stuhl. Während Deine Mutter die Schmerzen ihres Lebens in den hellen Raum schrie, knickte ich ein, sackte weg, fiel schließlich um und musste von zwei kräftigen Pflegern auf einen Stuhl gesetzt werden, um den Weg frei zu machen und nicht weiter die notwendigen Abläufe zu stören mit meiner wankelmütigen Anwesenheit. Ich war nicht der erste Mann, der hier zu Boden ging, die beiden Pfleger nahmen mich hoch mit routiniertem Humor: »Knockout, erste Runde.« Man setzte mich mit aufmunternden Worten auf einen Platz in der Ringecke im Kreißsaal, während der Hauptkampf in die nächste Runde ging. Erst beim nachträglichen Versuch der Umschreibung frage ich mich, warum das Boxquadrat ein Ring genannt wird und ob das Wort »Kreißsaal« vom gesteigerten Kreisen um ein Geschöpf stammen könnte, und lese, dass Kreißen dem gesteigerten Kreischen entspricht, und höre Deine Mutter in der Ferne.
Stumm und dumm konzentriert achtete ich danach auf meinen Halt in einem kalt metallenen Lehnsitz, den sie mir untergeschoben hatten zu meiner und der allgemeinen Sicherheit. Während Deine Mutter Leben gebar, übte ich Sitzen. Als ich ihre Hand hätte halten sollen, hatte ich meine Gliedmaßen nicht im Griff. Meiner einzigen Aufgabe, ihr beizustehen in dieser Lage, konnte ich nicht nachkommen, da ich schwach geworden war beim Anblick ihres weit geöffneten Unterleibs, übertönt von lauten Lauten, die ich niemals zuvor vernommen hatte, unheimlich aus einem menschlichen Leib. Scham überkam meine Einsicht, dass ich einer wesentlichen Wahrnehmung nicht gewachsen gewesen war. Der Schwindel legte sich langsam als schwere Müdigkeit auf das Denkmal des versteinerten Beisitzers.
Ich kämpfte mit meiner Selbstbeherrschung, während Du um Dein Leben rangst. Ich suchte meine Fassung, statt Dich anständig und aufrichtig oder doch bloß auf eigenen Beinen willkommen zu heißen. Einzig mein leibhaftiges Mitgefühl im schmerzverzerrten Angesicht Deiner werdenden Mutter hätte ich mir zugutehalten können, aber meine Empfindsamkeit wirkte kleinlich neben Euren kreativen und kreatürlichen Anstrengungen, ein Menschenkind zur Welt zu bringen. Zu sehen gewesen war ein Mann, auf dessen Standhaftigkeit man sich verlassen kann. Ich nahm es als Zeichen, das ich deute bis heute.
Deine Mutter hat mich später nie auf meine Schwindelgefühle und diesen meinen Ausfall angesprochen. Ihre Erinnerung an ihre einzig gebliebene Entbindung bleibt rein und konzentriert auf Euch und Eure entscheidende Begegnung oder Euer gemeinsames Ringen um Luft, Eure körperliche Auseinandersetzung, Euren Kampf um Leben. Diese meine Umschreibungsversuche sind Ausdruck des Neids, nicht dabei gewesen zu sein, als Du zur Welt kamst. Nachträglich eigne ich mir den Vorgang an, als könnte ich ihn begrifflich begreifen. Nie werde ich Dich mit ihren Augen sehen und den Stolz empfinden können, Dich ausgetragen zu haben bis zu Deiner Entbindung, Dich genährt und geboren zu haben.
Diese innige Erfahrung lässt sich Deine Mutter nicht von meinen zufälligen Anekdoten aus dem Kreißsaal verstören. Sie will nichts hören von meinen Beobachtungen der Geburtsszene, weil es ihre Erinnerung relativieren könnte, vermute ich. Oder sie weiß doch Bescheid, wie ich übermannt wurde an diesem Morgen, und will es nicht wissen, um in mir nicht den Umfaller sehen zu müssen, der ich war, als ich ihr Beistand hätte sein sollen. Ich stelle mich infrage, ich stelle mir die Frage, ob sie mich durchschaut seitdem und in mir dauerhaft meine Unzuverlässigkeit sieht und wie sich ihr Bild von mir noch übermalen ließe in täglicher tätlicher Mithilfe bei Deiner Erziehung, Deiner Aufzucht, Verpflegung und Weiterbildung oder in der Haushaltung unserer Etagenwohnung womöglich.
Weil Deine Mutter betäubt und erschöpft und zu schwach war, um Dich länger zu halten nach Eurer, ihrer erfolgreichen Hervorbringung, brachte mir eine Schwester mit wohlwollendem Lächeln ein Bündel Stoff, in dem ich einen zitternden Körper entdeckte, den meine Hände umfassen konnten. Ich hatte Dich in der Hand. »Da bist Du«, brachte ich heraus ohne Absicht. »Da bist Du«, bestätigte ich meine erste Einsicht. »Da bist Du«, begrüßte ich Dich und wiederholte den Satz, als könnten die Wiederholungen ihn glaubhafter machen, und variierte die Betonungen mit brüchiger Stimme. Ich schaute Dich an, Du schautest noch nicht. Meine Hände bewegten Dich wie selbstverständlich auf und ab in einem gleichmäßigen Rhythmus, als gewöhnte ich Dich schon an die kommenden Schwankungen oder imitierte die Fruchtwasserwellen unseres Vorlebens. »Ich halte Dich«, fiel mir im Anschluss zu sagen ein zu unserer Beruhigung. »Ich werde Dich nicht fallen lassen«, redete ich uns beiden Mut zu für die nächste und die übernächste Zeit. Und wiederholte diesen Dreisatz, als müsste ich dessen Zusammenhang einsehen oder auswendig lernen. Mein murmelndes Pendeln war ein Beten für uns.
Ich zweifelte an meinem Versprechen, wie lange es halten würde können, und gegen meine Absicht taten sich Situationen auf in weiter Zukunft, die Du nur auf Dich allein gestellt bestehen würdest müssen. Bei der Abschlussklausur vor einem Prüfungsausschuss in einer Zukunftsakademie werde ich nicht bei Dir sein. Du lagst in meinen Händen, und ich dachte an Deine Reifeprüfung. Deine Schutzlosigkeit war schwer zu tragen. Dass Du mich angeblich nur in vagen Schemen sehen konntest, entlastete meinen gerührten Gesichtsausdruck.
Ich weinte, aber der Satz ist zu schmal für den Vorgang: Zwei Rinnsale brachen sich zaghaft Bahn über meine Wangen zum Kinn, von dem ein Tropfen hinabstürzte auf Deine schorfbedeckte Stirn, der in Dein Auge zu laufen drohte. Eine Träne verlief zwischen unseren Augenblicken. Dieses unser Taufbild scheint zwischenzeitlich auf, wenn Du mich anschaust heute, wie meine Tränen Dein Gesicht benetzten, und ich sehe Dich doppelt belichtet. Jahre später ließen wir Dich taufen in einer serbisch-orthodoxen Kirche am Rande eines bosnischen Dorfs, und ein langbärtiger Pope goss Wasser aus einer Blechkanne über Deinen Kopf und spendete selbstgebrannten Schnaps zum Abschluss der Zeremonie, und die Frauen weinten.
Im Kreißsaal zählte ich Deine Finger und Deine Zehen, um zu prüfen, ob Du vollständig warst.
Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob ich der Aufgabe gewachsen bin, Dir ein guter Vater zu werden, und wann ich es sein konnte bisher. Mir fällt keine Grundlage ein, auf der ich mich vor Deiner Geburt hätte prüfen können, und unter welchen Gesichtspunkten. Ich schaute Dich an, aber Du sahst nicht zurück. Ich suchte Dich nach Merkmalen ab, an denen ich Dich als mein Kind hätte erkennen können, und war erleichtert, nichts an Dir zu finden, das mir auffällig unregelmäßig zu sein schien, dass Du in Ansätzen ausgerüstet warst für das bislang bekannte Menschenhandwerk, dass wir jeden Sport würden treiben können, und ich sah uns rudern Seite an Seite in einem alten Boot auf einem menschenleeren See. Die Oberschwester platzte in meine ferne Aussicht. Es sei Zeit für Deine erste Untersuchung, Du solltest gemessen und gewogen werden nach den gewöhnlichen Maßstäben.
Leben ist, was sich ereignet, während wir Pläne machen, lese ich in einem sozialen Netzwerk, soll John Lennon gesagt haben, aber die Sätze, die ich suche, um mich zu rechtfertigen, sorgen nur kurzfristig für Entlastung, bevor sie umspült oder überflutet werden vom Strom der laufenden Ereignisse.
Und jetzt schaust Du zur Tür herein und fragst, ob wir heute Ocean’s Twelve schauen gemeinsam, und ich muss entscheiden, ob wir uns ein weiteres Mal von schönen Schauspielern zeigen lassen sollen, wie ein Verbrechen gelingen kann.