DREI
Die ersten Wolken seit meiner Ankunft, kühler wird es deshalb nicht und kurz darauf ein Wolkenbruch. Es regnet heftiger als aus meiner Dusche, und in kurzer Zeit sind die Straßen überschwemmt, der Strom fällt aus und an den Kreuzungen regeln Polizisten den Verkehr. Aus Sonnenschirmen werden Regenschirme, aber die meisten Kubaner bleiben zuhause beim Regen, um ihre Schuhe nicht zu zerstören, erklären mir die Veranstalter den Zuschauermangel in der kühlen Fondacion Ludwig mit Blick übers Vedado, das bessere Viertel Havannas. Mein Vortrag also ist nur halb gefüllt, ich spreche über deutsches Theater und die Legitimationskrise der Fiktion und stelle um im Sprechen, als ich merke, wie viel wie gut schon bekannt ist in diesem Zuhörerkreis der Spezialisten. Realitätseinbrüche müssen hier im Theater nicht künstlich hergestellt werden, weil es in vielen Häusern durch die Decke regnet. Im Gespräch im Anschluss geht es schnell ums Geld und dessen Abwesenheit hier und den Mangel an Möglichkeiten. Castorf hat sich hier vorletztes Jahr auf dem Podium beklagt, dass sein Haus auch unterfinanziert sei, wird mir erzählt. Dann stellte sich heraus, dass die Subventionen der Volksbühne höher sind als der Kulturetat für ganz Havanna.
Im Vedado eine Villa nach der nächsten, aber nur die Botschaften, Konsulate und einige staatliche Gebäude sind renoviert, diese oft mit Sichtschutz. Vor den anderen, den zermürbten, sitzen Männer auf der Veranda wie Wachschutz ohne Uniform in Unterhemd und kurzen Hosen. Alleine oft, still, auf schlichten Stühlen. Schauen, was passiert, auch wenn nichts passiert. Da kann ich als Autor was lernen.
Hay mas tiempo que vida. Es gibt mehr Zeit als Leben.
Alle Häuser werden Brüder. In der Vergänglichkeit sind wir uns ähnlich.
Erhaben und gnädig blickt das alte Herrenhaus herab auf die Bemühungen der Neuzeit. Der Verfall erinnert die Schönheit schöner als sie jemals war. Die Ruine öffnet der Imagination Leerstellen. Und wird in Gedanken gerettet (Der Betrachter als Held).
Und dass die einfachsten Menschen die prächtigsten Villen besetzen, besitzen, bewohnen bis zu ihrem endgültigen Verfall, das ist schon ein sehr anmutiger Schlag in Gesicht der ehemaligen Imperialisten.
Und dass auf den Straßen fast ausschließlich osteuropäische Kleinwagen Baujahr bis 1989, amerikanische Großwagen von vor 1960 und chinesische Busse fahren, ist ein irrer Crash oder Krach der Kulturen. Die seltenen Neuwagen wirken dazwischen wie Banausen, ungebildete Emporkömmlinge ohne Geschichte, hässlich glatt. (Auch die Glas- und Stahlarchitektur der letzten Jahre fehlt nicht schmerzhaft.)
Seit einem Jahr ist der Neuwagenkauf erlaubt, die Preise bewegen sich im sechsstelligen Dollarbereich. Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt bei umgerechnet 40 Dollar. Die neuen Autos gehören hauptsächlich Sportlern, Künstlern oder Ärzten, die ihr Geld aus dem Ausland bekommen. Am Verkehr also wird man in den nächsten Jahren erkennen können, wie weit der Klassenfeind schon ist im Land. Und mit ihm die Konkurrenz und der Neid, der uns Wessis so hässlich macht.
Denn so wird es werden, sagt D. mit sicherer Überzeugung, erst kommen die Investoren und reißen das Land auf, die Unterschiede wachsen und die Hotels werden renoviert. Dann wachsen Missgunst, Gewalt und Armutsviertel. Dass man sich nur umschauen musste in der Umgebung, um zu sehen wie das Kapital und die CIA Lateinamerika verwüstet und verroht haben, hat den kubanischen Versuch länger lebendig gehalten. Aber erst wenn es überall gleich aussieht in der Welt, dann werden wir merken, dass wir noch einen anderen Menschen wollen, sagt E., der Schriftsteller, und plädiert sehr deutlich gegen meine Präsentation von dokumentarischem Theater: »Uns hilft nur die Erfindung, Einbildung, imaginación«. Und das leuchtet mir hier plötzlich ein.
2026 wird die Weltmenschenbildorganisation WMBO den Buddhistischen Sozialismus verordnen, zur ersten Probe im Kanton Schaffhausen, weil sie dort eh schon satt sind vom ewigen Geldkreislauf. Und dann probieren wir die Republik Kafka auf den freien Feldern von Mecklenburg und erklären Selbstzerknirschung zur Bürgerpflicht. Denn wir sind zu viele. Deshalb sollten wir uns kleiner machen, lächerlich verzweifelter statt immer zu groß (Zur Apologie des Spotts).
In der Altstadt treffe ich zufällig Jana aus Kaiserslautern wieder. Sehr kleines Hallo meinerseits und schon beginnt sie zu schimpfen: schlechtes Essen, kaputte Straßen, Taxibetrug, Aufzug stockt, lahmes Wi-Fi. Freu Dich, Jana, dann merkst Du zurück in Kaiserslautern, was für ein unverschämtes, unverdientes, gottverdammtes Glück Du gehabt hast in deinen dummen Leben. Oder wie man in Österreich sagt: Geh sterben.
Und an die Touristen mit sozialem Gewissen, die beim überladenen Frühstücksbuffet zur Feier der Konterrevolution ständig betonen, dass ihre Devisen den Menschen hier helfen: ja, sicher, aber noch mehr helfen würde es ihnen, wenn ihr den Leuten einfach das Geld schickt und selber zuhause bleibt. Dann müssten sie nicht ständig hinter Euch herfegen.
Ich – zu meiner Entschuldigung – bin beruflich hier.
Könnte man es nicht mit Crowdfunding versuchen, da schwärmen doch jetzt alle von: Wer das Projekt Tropischer Sozialismus unterstützt mit 1000 oder mehr Dollar jährlich, darf sich die Ergebnisse einmal in fünf Jahren anschauen kommen, als Selbstversorger in Außenbezirken mit guten Spanisch-Kenntnissen. Denn dass der Sozialismus und das Wetter und das Meer andere Menschen hervorbringen, ist mir aufgrund der warmen Begegnungen bewiesen. Sie nennen es das kubanische Fieber.
Im milden Wind schwärmen Schwärme von Menschen vom Dasein. Tausende gedrängt auf und an 2 Kilometern Kaimauer Malecón tollen, albern, quatschen ins Blaue, sitzen rum, trinken Rum und schauen ins Land (nicht sehnsüchtig aufs Meer und nicht nach Florida, wie der Zeit-Artikel behauptet hat, auf den ich wegen dieser Lüge schon wiederholt angesprochen worden bin).
Am Abend El tio Vanja de Anton Chejov im Argos Teatro in der Version von Carlos Celdran. Russisches Gähnen übersetzt in verschwitzte Hemden. »Trabaja, trabaja« wird als hohle Hoffnung belacht; auch Raul Castro fordert in seinen Volksansprachen jedes Mal aufs Neue zur Arbeit auf, gegen die Ungewissheit. Der Regisseur erklärt im Anschluss, dass das Stück exakt die gegenwärtige Situation des Landes spiegele. Das sagen deutsche Regisseure auch immer bei Tschechow. Welt also: müde. Machen wir eine andere. »Optimismus ist nur ein Mangel an Information.«
VIER
84% der Lebensmittel auf Kuba müssen importiert werden. Supermärkte sehen aus wie Resterampen. Auch deshalb esse ich beim Frühstück nur Ananas und Guaven. Der Kaffee kommt aus einem Automaten und schmeckt wie im Finanzamt. Ich löffel Zucker rein und rauche eine Zigarette. Denn Zucker und Tabak sind die wichtigsten Exportgüter. Schlechte Voraussetzungen für die Unabhängigkeit.
Im Museum für kubanische Kunst gibt es eine Führung durch die Abteilung 20. Jahrhundert, den ausländischen Teilnehmern fällt bei jedem Bild lautstark das europäische Pendant ein (Picasso, Picabia, Rauschenberg). Der Führer ist sichtlich erfreut zu einem schwulen, schwarzen Post-Revolutionskünstler mit Einflüssen aus den afro-kubanischen Naturreligionen zu kommen, zu dem die Zuschauer schweigen. Letzte Station: Der Schriftzug REVOLUTION gefertigt aus Alltagsmaterialien der verfallenden Stadt: »Revolution ist bei uns das historische Ereignis, aber wir nennen auch die Regierung Revolution und unser Vaterland.«
Leben nach, unter und in der Revolution, schöner Gedanke, inzwischen bei uns durch Start-Up-Unternehmensrhetorik versaut. (Ich probe gelegentlich den Aufstand gegen mich aus dem Hinterhalt.)
Und auf dem Rückweg sehe ich es das erste Mal, das berühmte VENCEREMOS. Auf einem Denkmal, das nach der Revolution demonstrativ aggressiv direkt gegenüber der US-amerikanischen Interessen-Vertretung aufgebaut worden ist als architektonische Kampfansage an den Klassenfeind, verstärkt von einem Fahnenwald und der Tribuna Anti-Imperialista.: PATRIA O MUERTE.
Vor dem Eingang zur US-Vertretung steht eine kubanische Menschenschlange und angrenzend gibt es Geschäfte, in denen man Passfotos machen lassen kann gemäß internationaler Standards.
Hit der Saison: Viva mi vida von Marc Anthony. Dann leb halt dein Leben, schimpft Studentin F. nach dem sechsten Durchlauf auf den Sänger, no me moleste!
Hubert Fichte hat bei seinen Reisen nach Brasilien und in die Karibik angeblich monatlich ein neues Ureinwohneridiom zu lernen sich bemüht. Ich freu mich schon, wenn ich Hühnchen bestelle in einem Lokal am Rande der Stadt, das nicht für Touristen vorgesehen ist. Die Bedienung ist eine Schwarze im weißen Kostüm und versucht ein Gespräch, das aufgrund meiner Dummheit karg bleibt wie das Essen. Bei der Getränkelieferung nennt sie mich Amor. Und bei der Rechnung schreibt sie mir ihre Telefonnummer dazu und dass sie morgen Zeit hat ab 6. Das muss an meinem kindlichen Spanisch liegen oder an meiner verkrampften Ausstrahlung.
Die Botschaftsangestellten erzählen die Geschichten von Paaren, die heiraten wollen, ohne sich verständigen zu können. Jeder kennt eine Anekdote von Europäern, die sich hier von ihrer Familie getrennt haben für eine kubanische Geliebte. Die Mulatten machen ausreichend Kinder, um die Europäer mit Geliebten zu versorgen, sagt der weiße Taxifahrer, der früher Lehrer war. Der Rassismus wird unverschämter, sagt der Schriftsteller E. Dass ausschließlich tote oder exilierte Kubaner in Europa gelesen oder gespielt werden, ist Politik der Ausgrenzung, sagt er auch, und ich verspreche, mich um eine Übersetzung seiner Faust-Bearbeitung zu bemühen.
Am Abend die Inszenierung von Wörter und Körper: intensivo, con fuerza, muchas gracias. Grell, schnell, Musical.
Die Lina ist zwanzig Jahre jünger geworden, aber der Regisseur versichert mir, dass Lina, er und sie als Zugereiste in der Hauptstadt die selben Probleme teilen
(Identität, Intimität, Geld). Laut gelacht wird bei den Wiederholungen der zentralen Frage des Stücks nach dem Zusammenhang (conexión? cual conexión?). Stimmt immer noch: Hat der Zusammenhang schon angefangen? Ich bin begeistert und hoffe, meine Komplimente klingen nicht gönnerhaft und umarme einmal zu oft den Regisseur. Nach dem vierten Cuba Libre sind wir alle voneinander besoffen.