In der Nacht kann ich nicht schlafen und gehe raus auf gut Glück. Obwohl ich zur Vorbereitung Takeshi Kitanos Yakuza-Elegie Sonatine gesehen habe, spaziere ich angstfrei um vier durch eine unbekannte Metropole und bewundere Wolkenkratzer neben Holzhäusern und kann mich nicht entscheiden, aber es gibt auch nichts zu entscheiden. Vor einer Baustelle stehe ich andächtig wie vor einem Kunstwerk, zwei Feinmechaniker gestalten im wortlosen Duett ein buntes Loch aus Rohren und Kabeln neu und sind beleuchtet wie Stars und bewacht von zwei Sicherheitsmännern, die gleichsam still und stolz die Ordnung wahren. Jetlag-Kurzschluss Landeskunde: Sicherheit und Gemeinsinn werden anders geschrieben auf einer dichtbesiedelten Erdbebeninsel umlagert von Großmächten. Der Zusammenhang einer Inselgruppe muss täglich neu bewiesen werden. Technik ist Überlegenheit in Gedanken. Die Erdbebendrohung macht demütig. Je kostbarer der Raum, desto asozialer die Ausschweifung.
Ich rauche eine Zigarette im Park bis mir auffällt, dass sogar hier das Rauchen nur in einer gesonderten Zone erlaubt ist. Auf dem Weg dorthin folgt mir eine Krähe, sie pickt mein Bein, ich gehe schneller und sie breitet ihre Schwingen aus und wird bedrohlich schwarz und groß, und ich laufe und schütze meinen Kopf, und sie fliegt mir nach, bis sie über mir in der Luft auf eine Kollegin trifft im Flug, und sie lachen mich aus aus der Luft, wie ich panisch davonrenne inzwischen aus dem Park zurück zwischen die Hochhäuser. Ich nehme es als Zeichen, die Krähen als Ordnungshüter, und bewege mich danach, wie ich mir Mönche denke und lasse das Rauchen, es ist nicht erwünscht. »Weg von mir«, sollte das Motto der Reise lauten, verlaufen, verlieren, verleiten lassen. Aber im Schreiben komme ich dann doch wieder auf den zurück, dem etwas zustößt. Keine Komik ohne Subjekte.
Die Sonne ist aufgegangen und die Stadt steht verwaschen im Dunst des Morgens. Auf dem Fischmarkt traue ich mich nicht in die Garküchen, da ich befürchten muss, den Betrieb aufzuhalten, der ohne mich wortkarg, schnell und störungsfrei den Arbeitstag eröffnet. Das Sehen schmeckt, ich schlürfe die Straßen, noch der Abfall scheint geordnet und die Fischreste gesund. Japan ist das Land mit der höchsten Lebenserwartung. Das Meer wächst, da ich sehe, was es an Tier hier auf die Präsentiertische schafft. Aus den Eiswürfeln grollt ein Teufelsfisch, nebenan umfängt eine Krake die dampfende Luft. Kaum Gerede unter den Geschäftigen, der Blick ins Smartphone hat das Marktgeschwätz ersetzt. Das macht die toten Tiere grauer. Seelenruhig warten sehnige Männer unter Neonleuchten in ihrem Kabuff auf erste Kunden für Haushaltswaren und Kuscheltiere.
Manchmal notiere ich bloß, um mir die Überforderung vom Leib zu halten. Nach einer fehlgeleiteten Wanderung durch einen Verkehrsknoten setze ich mich an die Bushaltestelle und hole mein Buch heraus, um mich abzusetzen vom Durcheinander, um Ordnung zu schaffen in einem geraden Satz. Ich richte mich ein in der Formulierung des Erfahrenen, das Tagebuch als Hausbau. Jetzt hier schreibe ich, um mich zu beruhigen in meiner Sprache. Zur Verlorenheit steht das Geschriebene im Widerspruch. Hätte ich ein Smartphone, spielte ich Tetris und fügte Stein auf Stein. Viele Bürotürme sind nicht gekennzeichnet, sie stehen für namenlose Arbeit, Verwaltung des Betriebs. Aktuell überragen mich 23 Stockwerke, deren Betreiber über sein Geschäftsfeld keine Angaben macht, er hat dem Wolkenkratzer nur einen Vornamen gegeben: Conrad. Ich staune selbst über Parkhäuser hier, über Stellplätze vor den Häuser in der Form eines Schreins, das Donnern der Hochstraße, das man im Teehaus im Park nebenan noch hört als rauschenden Fluss oder grollenden Gott, über die Stille der Arbeit, die Diskretion der Müllabfuhr und immer wieder über den Gleichmut, mit dem zum Beispiel noch die sauberste Straße gefegt wird.
Tsukiji heißt »gemachtes Land«, weil dieser Teil Tokyos dem Wasser abgewonnen wurde. »Gemachtes Land«, behauptet auch die Architektur in höchsten Tönen, die Skyline ein Metallophon. Zwischen den Hochleistungstürmen fließt gleichförmig der Menschenstrom. Das Leben lebt nebensächlich im Schatten der Überwältigungstechnik der Unterhaltungsindustrie. Eine Spielhalle brüllt »Hallo, Karaoke inklusive«.
Jetlag-Landeskunde: Vielleicht ist Pop in Japan deshalb so schrill und grell, weil nach ’45 die US-Besatzung rasant die Oberflächen übernimmt ohne Vorgeschichte. Andererseits: Im Nationalmuseum sehe ich später quietschbunte Holzschnitte grotesker Szenen, und die »Shunga« genannten Kopfkissenbilder sind schlüpfrige Cartoons. Apropos Cartoon: Manche Wohnung im teuersten Immobilienfleck der Erde ist nicht viel mehr als ein Karton (Shino lebt in einer 10-Quadratmeter-Wohnung in einem Flur aus 22 solcher Wohnungen). Also anders: Pop stimuliert von buddhistischem Witz klingt schräger als gebrummt aus deutschem Wald. Quatsch. Auf jeden Fall bin ich schwer beeindruckt, wie Sweet-Japanese-Giggle-Elektro krachlaut aus der Spielhalle dröhnt, in der die Jugend sich hinter Masken, Brillen und Verkleidungen die Traurigkeit (oder die Langeweile) von der Seele (oder aus dem Leistungsdenken) ballert. Sogar das jugendliche Essen in der Umgebung leuchtet neonfarben Plastik in der Auslage. Schmeckt dann aber (hier traue ich mich) wie frisch aus dem Fluss.
Fast schon am Wasser, am Ende des Fischmarktes zwischen Kühlhallen und Lagerräumen endlich: ein Shinto-Schrein. An der Seite liegen breit grinsend zwei zottelige Drachen, in der Mitte steht eine hölzerne Hütte voller goldener Devotionalien in geheimer Unordnung. Arbeiter vom Markt kommen vereinzelt zum Gedenken und nach dem dritten Gebet versuche ich mich in der Nachahmung. Mit einer Kordel schlägt man die Glocke und wirft danach ein Geldstück in die Box, verbeugt sich mit gefalteten Händen, klatscht zweimal und verbeugt sich noch einmal zum Abschied. Ich habe, erfahre ich später, in einem Schrein zum Schutz vor Überschwemmung gebetet, gegen das Unglück und für gute Reisen. Ich habe zu einem fremden Gott gebetet, weil dieser Gott mich nicht bedrückt, nichts fordert von mir, sondern seine Hilfe anbietet gegen meine Ängste. Er ist einer von zahllosen Götter, sie haben kein Regelbuch, es gibt keinen Religionsunterricht und das Wissen ist spärlich verstreut, erfahre ich später von Shino. Ich finde es befremdlich, dass die Überlieferung den Einzelnen und deren Familie überlassen scheint. Sie findet es befremdlich, dass Religion ein Schulfach sein kann. Spätere bewundere ich, wie beiläufig ein jeder zwischen zwei Besorgungen einkehren kann zur kurzen Besinnung zum öffentlichen Gebet auf der Straße (direkt neben dem U-Bahnausgang ein »Gott der Gesundheit«).
Um sechs Uhr früh bin ich überdreht und müde und besuche den buddhistischen Hongan-Tempel, der um diese Zeit schwach besucht ist. Unter den Müden, den Alten, den Schwachen und Gebrechlichen bin ich aufgehoben. Einem Mann mit zerschlissenen Hosen fällt der Kopf vornüber, eine Alte durchsucht ihre Plastiktüte, kein Aufseher kontrolliert die Andacht. Die gesamte Rückfront des Tempels ist eine breite Bühne mit kleinen Treppen und leichten Trennwänden, die Geheimnisse wahren. Der Blick muss schweifen, um das Ganze zu übersehen.
Als wäre ich ein Zeichen, treten Mönche langsam und schweigend in wunderlicher Choreografie von allen Seiten durch die Räume. Sie unterbrechen ihre Gänge, um sich vor Bildnissen, Büchern und voreinander zu verbeugen. Jede Stufe wird mit beiden Füßen betreten. Schließlich finden alle ihren Platz, die meisten auf Knien an den Seiten der goldenen Buddhafigur, die Jüngeren bei den Gegenständen, die sie im Folgenden bedienen werden. Ein Gong trifft mich im Magen und hallt eine lange Weile nach und nach und sinkt. Der Gesang setzt ein und ich kann folgen, ich stimme summend ein, die Tonfolge ist nachvollziehbar. Der Raum ist bestimmt, die Luft geräuchert und der Besucher auf dem Plastikstuhl schluckt sein Kaugummi und ist mit allen Sinnen eingebunden. Es dreht sich. Die Zeit verliert sich nach und nach und nach in der Wiederholung. Bis zum Ende der Zeremonie bin ich gläubiger Buddhist und mir ist, als verstände ich das Gesungene, es handelt von Nichts. Ich denke an meinen Vater, der daheim alles vergisst. In der Mitte sitzt ein dicker Mann und lächelt. Draußen schwebe ich noch ein wenig durch die Straßen. Unmittelbar einleuchtend: »Let it be«. Achtsamkeit, Sozialkontrolle, Abstand. Das Durcheinander macht anfällig für Heilsversprechen.
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Florian Coulmas zitiert in einem Artikel zur japanischen Zukunft eine Umfrage, nach der 45% der Japanerinnen kein Interesse an Sex haben (aber wer hätte Interesse am Sex im Gespräch mit einem Umfrageinstitut?) und über 30% der Männer am Zölibatssyndrom leideten. Diese fragwürdigen Informationen lenken meinen Blick beim nächsten Spaziergang, und zur Bestätigung sehe ich nichts, was Leidenschaft begründen könnte im reibungslosen Verlauf der geschäftig Handelnden und ich wäre gern Teil dieses Geschehens und gehörte zu ihnen.
Am Abend im Kabuki-Theater sucht ein junger Krieger seine Mutter. Er spricht und kämpft und klagt in strengen Formen. Kein Schritt wirkt unbedacht, der erfahrene Zuschauer erkennt wahrscheinlich schon im Kostüm die Abweichung. Ich dagegen kann nur schwer staunen über den erstarrten Ausdruck der überschminkten Gesichter, ein Stück wie eine Tempelanlage aus alter Zeit, die Spieler als Bausteine. Die Moral am Ende: Auch wenn ich die Mutter nie finde, ich trage ihr Bild immer bei mir. Ich halte mich vor Müdigkeit kaum im Sitz, die junge Frau neben mir hat Tränen in den Augen, die sie stolz mit sich ins Foyer trägt.
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Zur Frage der deutsch-japanischen Beziehungen zitiert der Deutsch-Japaner Akio mit vorauseilender Distanzierung: »Das nächste Mal machen wir es ohne die Italiener.«
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Japan hat im Jahre 2016 insgesamt 28 Flüchtlinge aufgenommen und 99 Prozent der Asylanträge abgelehnt, die in diesem Jahr gestellt wurden.
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Am Sonntagnachmittag besuche ich mein Stück Mein Herz ist rein in einem Kellerraum im abweisenden Diplomatenviertel. Die Schauspieltruppe hat kein eigenes Theater und muss für jede Inszenierung nach einem neuen Aufführungsort suchen. Das Publikum umringt die Spielstätte und mein Blick schwankt zwischen den unbewegten Zuschauern und dem vielfach verdrehten Spiel. Ich erkenne Shino und ihren Blick auf Deutschland, wie sie eine überforderte deutsche Frau spielt, die um Haltung ringt und dabei die Freiheit genießt, ihre Unsicherheit zu teilen. Die japanischen Spieler imitieren ein europäisches Milieu und markieren spielend die Abstände. Mir gehen die Augen auf über die Unterschiede, das japanische Publikum aber bleibt regungslos, was meine Wahrnehmung wiederum verdüstert und die Szene beschwert.
Lange bleibt unklar, was gespielt wird mit welchem Genre und ob das präsentierte Milieu fantastisch, grotesk oder realitätsnah sein will. Ich kann die Fremdheit nur vage abschätzen, aber wenn eine katholische Hausfrau mit einem Bio-Energetik-Therapeuten über die Sexualität ihrer Kinder streitet, kennen die japanischen Zuschauer die Szene wahrscheinlich nicht von Zuhause. Erst als der Therapeut zum dritten Mal brüllt: »Lass es raus!«, schaue ich in schmunzelnde Gesichter (wahrscheinlich ist die Aufforderung beim ersten Mal unverständlich, beim zweiten Mal lebensfremd und beim dritten Mal Nonsens, und dieses Brüllen von Lebensweisheiten ist auch eine deutsche Erfindung). Erst in der Wiederholung wird deutlich, dass gelacht werden darf über die aufgedrehten Beratungsexistenzen auf der Bühne. Und ich bemerke bei einem Stück, das mir fern war bisher, wie ich selbst drinstecke in diesem Konflikt zwischen einem Deutschlehrer, einer Ordnungsliebhaberin, einem Schwadroneur, einer Gefallsüchtigen und einem Womanizer, wie man leben und erziehen soll, und wie wenig selbstverständlich die Annahmen doch sind, dass die Intimverhältnisse zu öffnen seien, dass es in der eigenen Geschichte etwas zu erforschen gebe und dass Paare ihre Beziehung klären könnten.
Nach der Vorstellung kommt ein Paar und dankt mir begeistert und folgert aus meinem Stücktext, dass auch die Japaner dringend offen und ehrlich mit ihren Kindern über Sexualität reden müssten und über ihre Gefühle. Und im Größenwahn denke ich, ›ich habe Japan verändert‹ und sei ab jetzt verantwortlich für den möglichen Niedergang. Beim Abschlussessen mit den freundlichsten Schauspielern der Welt will ich bald schon ein japanisches Stück versuchen ohne Sentiment und Psychohygiene, ohne Selbstverwirklichung und Individualterror und ohne Ironie und Lebensberatung. Aber womit dann?
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Am letzten Tag fahre ich mit Shino in ihr Elternhaus nach Maebashi. Das Willkommen ist eine Überwältigung, ich bin schon weich vor Dankbarkeit. Auf dem Tisch drängen sich die gesammelten Spezialitäten der Region zum Mittagsmahl, nach dem Essen fahren wir zum »Schrein des Waldgottes« und am frühen Abend werde ich dringend aufgefordert, das heimische Onsen zu besuchen, ein berühmtes Bad aus heißen Quellen. Tätowierungen sind dort nicht erlaubt, weil sie auf Verbindungen zur Yakuza schließen lassen. Shinos Mutter überklebt meinen Totenkopf mit einem ABC-Pflaster. Ich stehe mit nacktem Oberkörper vor der Mutter meiner Übersetzerin und sie streicht mir über die Schulter und es wird warm und später noch wärmer in den heißen Bädern unter den befremdeten Blicken der nackten japanischen Männer unter einem sternenklaren Himmel.
Mit 18 sind mein Freund Martin und ich im grünen Ford Taunus meiner Eltern zu einem englischen Tätowierer nach Minden gefahren, der in erster Linie die dort stationierten britischen Soldaten bearbeitete. Aus einem Katalog suchten wir uns einen Totenkopf aus, den wir uns beide auf die Schultern stechen ließen. Drei Jahre später warf sich mein Freund Martin von einem Hochhaus in seinen Tod. Meine Mutter brach an meiner Schulter zusammen, als wir die Nachricht hörten. Meine Tränen tropfen ins japanische Wasser, und morgen geht es zurück.
Japan – Teil 2
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© Max Zerrahn