Am 25. September 2007 um 14.27 Uhr landete eine E-Mail in meinem Spam-Ordner (»Der erste Satz darf uns nicht kalt und unberührt lassen«). Nur weil ich damals noch neugierig war auf Anschreiben, die mir in ungelenkem Deutsch eine unwahrscheinliche Geschichte erzählten oder im Namen einer Anwaltskanzlei drohten oder von neuesten Fortschritten auf dem Potenzmittelmarkt schwärmten, um schließlich dringend meinen Einsatz zu fordern (»Was ist mit Dir bloß los? Reagier!«), las ich auch diese Mail von einem Absender mit asiatischen Schriftzeichen, deren Herkunft ich nicht zuordnen konnte:
Sehr geehrter Herr Martin Heckmanns!
Es freut mich sehr Sie kennen zu lernen und Ihnen einen Email schicken zu koennen. Ich heisse Shino Nagata. Von meiner Bekannte habe ich ueber Ihnen gehoert und beim Internet den Anzug Ihrer Theaterstuecken gelesen. Danach habe ich Ihre Finnisch und Kraenk gelesen. Ich bin tief beeindrueckt. Ich moechte umbedingt Ihre Drama auf Japanisch darstellen! …
(Shino hat mir erlaubt, ihre Mails zu veröffentlichen, nachdem ich ihr gesagt habe, was sie mir bedeuten.)
Ich fühlte mich geschmeichelt, und die Schmeichelei stärkte den Verdacht, dass es sich bei der Mail doch um einen Trickbetrug handeln könnte (später mehr, wie in den letzten zehn Jahren meine Neugier und mein Vertrauen angegriffen worden sind). Aber in der Folge stellte sich Shino Nagata als Schauspielerin und Übersetzerin vor und erwähnte Textpassagen, die sie nicht ohne Mühe im Netz gefunden haben konnte. Es schien also tatsächlich eine Frau in Japan zu geben, die Stücke von mir gelesen hatte und »tief beeindrueckt« war. Ich antwortete vorsichtig und meine Antwort fand keinen Ton.
Ein halbes Jahr später kam Shino zu Besuch nach Deutschland. Vor unserem Treffen ging ich zum Friseur und rasierte mich. Ich räumte die Wohnung auf und bügelte mein einziges weißes Hemd, das mir zu eng geworden war. Mein schwerer Körper fiel mir auf, meine Unordnung, meine Nachlässigkeit, wie undeutlich mir die Traditionen sind, nach denen ich mich einrichte oder von denen ich mich absetze (die letzteren sind deutlicher). Mir war nicht mehr klar, wie ich fremde Frauen begrüßte, der Handschlag kam mir grob vor, die Umarmung übergriffig. Als ich die Tür öffnete, stand eine sehr zarte, kleine, junge Frau vor mir, die sich lächelnd verbeugte. Ich verbeugte mich ebenfalls wie selbstverständlich lächelnd und faltete die Hände vor der Brust, weil ich nicht wusste, wohin mit ihnen. Das hatte ich das letzte Mal in der Kirche getan (meine Demut hat sich auch verändert), nur ohne Lächeln. Als ich hochschaute, reichte mir Shino ihren Mantel und ich wusste, was ich zu tun hatte. Sie trug eine edle Bluse und ein Kostüm von schlichter Grazie und schlüpfte anmutig aus ihren Schuhen, die danach leer standen wie eine Flotte aus zwei Spielzeugschiffen. Shinos Erscheinung mit einer Puppe zu vergleichen, verbiete ich mir.
Ich hatte grünen Tee besorgt, aber Shino wollte lieber Kaffee trinken. Für den Abend hatte ich Sake gekauft, da trank sie lieber Bier. Freundlich widerlegte sie meine Vorurteile, ihre Freundlichkeit war eine Bestätigung. Wir waren scheu, das war mir neu. Ich unterließ jede Frage, die mir zudringlich schien und unterließ es bald zu fragen. Unbeholfen kamen wir ins Gespräch und näherten uns vorsichtig an im Austausch über meine Texte, die unsere erste Verbindung bildeten. Sie hatte begonnen, eine Komödie von mir zu übersetzen, und ich suchte nach Gemeinsamkeiten im Gespräch über das Lachen. Aber mir fiel auf, dass mir kein Bild einfiel von einem japanischen Lachen. Als ob das Land des Lächelns das Lachen ausgesondert hätte. Die Komödien, die ich kannte aus ihrem Land, und viele waren es nicht, waren trocken oder mild. Ich stellte mir vor, wie die Witze in meiner Komödie sich in der Übersetzung veränderten. Und Shino fragte, tatsächlich überrascht: »Welche Witze?«
Und ich war zu überrascht, um lachen zu können und traute mich nicht, weiter zu fragen, um sie nicht zu beschämen, und so bin ich mir bis heute nicht sicher, was sie liest in meinen Texten. Ihre Übersetzung kann ich nicht überschauen, im Gespräch eröffnet sie sich nur in Ansätzen. Ihr gefällt die Direktheit der Dialoge,
wie ihr das deutsche Theater gefällt, wenn es die Grenzen befragt, unverschämt wird und wenn Frauenfiguren sich frei spielen. Sie staunt, wie umstritten Umgangsformen sein können, die ihr selbstverständlich sind. Und wie eine Gesellschaft von Weitem stark und dominant wirken kann, die in ihren Theaterstücken zerrissen, deprimiert oder dysfunktional scheint. Wie diese Brüche funkeln, das begeistert mich beim Schreiben gelegentlich plötzlich.
Sehr geehrter Herr Martin Heckmanns!
Ich bitte Sie um Entschuldigung. Ich konnte lange Zeit an Ihnen nicht schreiben. Ihr Theaterstueck zum Text uebersetzen war fuer mich sehr schwierig und ich habe viele zeit stehen geblieben. Jetzt ist die Uebersetzung fast fertig. Und nach einige Ausdruecken moechte ich Ihnen befragen.
P7 »Dieses Gewachs, dieses Gewuchs, dieses Gewusel hier.«
Was bedeutet dieser Woerterspiel?
P32 »ein nicht enden wollender Fluss oder ein Fundament aus Beton.«
Darf man es begreifen als ein Fluss und ein architektonisches Wort?
Es tut mir Leid, diese Missverstandnis kommt von meine Schwaeche. Ich schreibe jetzt die Abschlussarbeit. Mein Thema ist ueber Ihre Form des Textes. Verkoerperung des abstrakte Begriff. Die innere STIMMEN und ZEIT, KOERPER. Ich moechte Ihre Weltanschauung analysieren und mit mittelalterliche religioese Spielen vergleichen. Weniges scheint mit Ihrem Stueck gemein. Vieleicht nur zufallig. Ich moechte wissen woher Sie die Idee ueber Verkoerperung gehabt. Und ist die Thema des Textes, ein Mensch hat nichts als ihm selbst? Aendert nichts in der Geschichte, aber da sein koennen als irgendetwas? Wenn ich in einem falschen Weg einschlagen habe, bitte zeigen Sie mir den richtigen Ziel!
Von jetzt an werde ich mich konzentrieren auf Ausbildung im Theater. Und Ihre Stück möchte ich zum aufführen empfehlen, nur bin ich in der Truppe am jungste und habe heute keine Kraft. Bitte warten Sie mit Langmut.
Ich danke Ihnen vielmals. Ohne Ihre Hilfe und Freundschaft konnte ich nichts
machen. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.
Ich wuensche Ihnen Froehliche Weihnachten!
Ihr sehr ergebene Shino Nagata
Die folgende Adventszeit verbrachte ich über einem Brief an Shino, der ihren Fragen gerecht zu werden versuchte. Ich recherchierte in meinen eigenen Stücken und über Mysterienspiele und wunderte mich nachträglich, wie unbeschwert ich hatte schreiben können einst. Über japanische Witze fand ich keine Literatur. Neun Jahre später flog ich das erste Mal nach Tokyo.
TOKYO
Shinos Mutter Maki holt mich am Flughafen ab, um mir die Überforderung zu ersparen, die richtige Bahn nach Tsukiji zu finden und den Weg ins Hotel. Sie hat außerdem die Übernachtungen bezahlt, die Fahrkarten und mich eingeladen in ihr Haus auf dem Land. Was wären wir ohne Mütter? Ich weiß nicht, wie ich mich bedanken kann, meine Gastgeschenke sind noch im Koffer, Bücher von mir und ein Dresdner Stollen. Ich verbeuge mich tief und sage »Arigato!«, wie es mein Übersetzungsprogramm vorgesprochen hat. Und wiederhole diesen Vorgang, um ihn zu bekräftigen. Und ein weiteres Mal, um ihn zu verbessern. Das wird in den nächsten Tagen zu meiner Haltung. Ich gehe gebeugt, um meine Körpergröße herunterzuspielen. Ich spreche leise, um nicht aufzufallen. Ich bedanke mich auch, wenn ich korrigiert werde im Straßenverkehr. Und wer sich ständig bedankt, merkt plötzlich, dass er sich für alles bedanken könnte, und die Begegnungen werden kostbar wie in der Kindheit bei den ersten Malen (dieses Gefühl wurde Ihnen präsentiert von Mothers Incorporated). Sie nannten ihn Arigato.
Mit den Reisfeldern und der Leichtbauweise ist es rasch vorbei, unter Tage wird die U-Bahn voll, wie ich es von Bildbänden oder aus den Reportagen kenne (»Tokyo Compression«), aber es fühlt sich doch anders an als auf dem Bildschirm, nach einer schlaflosen Flugreise aus dem Berliner Winter mit Mantel und Mütze zwischen feinen, kleinen Menschen zu stehen wie ein dumpfer, dampfender Berliner Bär.
In den Gesprächen vor meiner Reise hat Lars Wellings hat mich über die besondere Geruchsempfindlichkeit der Japaner aufgeklärt, sein Bekannter wusste von Bordellen, in denen ein U-Bahnwagen mit Prostituierten in Schuluniform stehen soll. Jörg Fingerhut erzählte von der Sorgfalt und der Ehrfurcht der japanischen Übersetzer deutscher Philosophie und dass es vier japanische Ausdrücke für Schönheit gebe und dass noch ein fünfter erfunden worden sei bloß für die Schönheit bei Hegel, weil es sie so vorher noch nicht gegeben habe (diese Schönheit, vor Hegel). Einer hatte von Schlafplätzen in Schubfächern gelesen, ein anderer von massenhaften Hikikomori, die sich nicht aus dem Haus trauen, weil sie nicht wissen, wie sie sich zeigen sollen. Karoshi ist der Tod durch Überarbeitung, die Suizidraten sind auffällig. Harakiri, Kamikaze, Tamagotchi. Jeder Gesprächspartner wusste eine Seltsamkeit über Japan und die Japaner zu berichten, als wüchsen unsere Zukünfte hier wilder sich aus, in einem Treibhaus der Absonderlichkeiten der Moderne. Entsprechend vermute ich Abgründe unter den Anzügen in der geschlechtslosen U-Bahn, in der jeder Zweite einen Mundschutz trägt für den Notfall, dass ein Mitreisender leicht erkältet gestern noch durch den Weddinger Gesundbrunnen Untergrund gefahren ist (und, lese ich später, weil der Mundschutz modisches Zubehör geworden ist, und auch, damit junge Frauen sich ungeschminkt aus dem Haus wagen). Mutter Maki ist Flötistin und hat in Wien und Eisenach im Orchester gespielt, sie schätzt die deutsche Kultur hoch, auch wenn sie ihr zeitweise beide Kinder entführt hat, ihr Sohn ist Tänzer in Dessau. Ihre Tochter hat in den letzten Jahren drei Stücke von mir übersetzt und mir viel Zeit geschenkt, und ich habe einen Stollen mit. Domo Arigato.
Scheu ist scheues Wort. Sofort ist ein Reh im Raum. Ich trage Scheu, die vorbedachte Zierde hier in Unordnung zu bringen. Scham, zu stören. Sorge, die Regeln zu verletzen aus Unwissenheit. Die Polizisten tragen weiße Helme. Die Ordnung fordert Respekt, schon weil sie funktioniert. Tausend Menschen überqueren gleichzeitig eine Kreuzung ohne Zwischenfall. Telefonieren ist in der U-Bahn verboten, Männer im Anzug schlafen diskret im Stehen. Niemand isst im Gehen oder trinkt in der Bahn. Selbstverwirklichung scheint ausgelagert, kein Graffiti und keine Tätowierung markieren Eigensinn. Die Ströme auf den Einkaufsstraßen folgen geheimen Regeln, das Dunkel der Nacht ist in den Himmel verschoben. Hell leuchten die Konsumversprechen auf Erden. In Ginza verstehe ich den Begriff Einkaufstempel neu, wir huldigen unserer Einbildungskraft, was wir sein könnten mit jeweils diesem neuartigen Gerät der Erleichterung. Geister, Technophilie und Selbstvergessenheit, das Kollektiv nimmt mich mit. Ich werde Teil einer Bewegung, die für diese Fußgängerunterführung eintritt oder für den Fortschritt. Das Wort emsig weckt Ameisen. Der Kimono erlaubt nur kleine Schritte. Später mehr.
Grob rastert mein Wahrnehmungsapparat, damit ich folgen kann. Ich bin auf Empfang gestellt, seit das Telefon nicht mehr funktioniert und löse mich auf unter Eindrücken. Meine Aufmerksamkeit kapituliert, ich lasse mich führen und weiß später alleine keine Straße mehr zurück. Maki bringt mich ins Hotel, wo man nichts mehr falsch machen kann. Auf Knopfdruck auf dem WC wird mein Hintern erst warm geduscht, dann sanft gefönt. Wohlstandsblase, Energiekrise, Willkommen.