Martin Heckmanns verbringt ein halbes Jahr in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens.
Als ich 1999 das erste Mal mit Sanja und ihrer Schwester nach Sibovska fuhr, war jede Grenzkontrolle ein Schauspiel. Die slowenischen Kontrolleure zeigten sich betont freundlich, sprachen einige Sätze lila gefärbtes Kärntnerisch und wünschten uns allen einen schönen Aufenthalt. Vier Jahre später wurde Slowenien Mitglied in der Europäischen Union. An der kroatischen Grenze wurde Sanjas Pass wohlwollend begutachtet, der Pass ihrer Schwester dagegen scharf kontrolliert und die Blicke auf dessen Besitzerin im Anschluss schienen mir abschätzig bis verächtlich. Die Schwestern sind schöne Frauen und hätten Werbung machen können für einen Familienurlaub in Jugoslawien, wenn es das Land noch gegeben hätte. An der bosnischen Grenze schließlich wurde Sanja kalt wie eine Verräterin behandelt, und Mirella wurde empfangen, als hätte man sie vermisst oder wiedererkannt und hieße sie willkommen zurück. In diesem Schauspiel gab es eine Moral, die mir überdeutlich präsentiert wurde.
Der Krieg war noch nicht lange vorbei, Sanja hatte schon vor Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, während ihre jüngere Schwester Mirella Bosnierin bleiben wollte. Unter den Schwestern wurde über diese Entscheidungen nicht gesprochen. Es waren Entscheidungen, die sie voneinander entfernten, es ging um Treue und Bekenntnis. Ihre Personalausweise dokumentierten die wortlose Auseinandersetzung und die Grenzbeamten konnten sie lesen und fühlten sich aufgefordert zu einer theatralischen Stellungnahme. Als ich die Schwestern auf das Schauspiel ansprach, verneinten sie, es gesehen zu haben.
Auch in der verwalteten Natur ließ sich auf dieser Reise erkennen, wie die Länder der ehemaligen Volksrepublik sich voneinander entfernten. Die Felder in Slowenien waren gemäht wie zuvor in Österreich und die Kühe posierten vor Geranien auf Balkonen an beschaulichen Bauernhäusern. Unter der Franzenbrücke in Ljubljana verlief schon der Fluss in die nächste Zeit. Durch Kroatien streunten herrenlose Hunde und Katzen, die Plattenbauten von Zagreb standen trotzig zu ihrer sozialistischen Vergangenheit. Aber erst an der Grenze zu Bosnien begann ein offensichtlich anderes Europa (der Unterschied ist noch deutlicher geworden, seitdem Kroatien EU-Mitglied ist und hier tatsächlich die Außengrenze der Union befestigt wird).
Bosnien-Herzegowina ist ein brutal misshandeltes Land und man sieht es ihm an. Schon die Verkehrsordnung kurz nach der Grenze wirkt korrupt. Die Grenzstadt Gradiška war Kampfplatz und Fluchtort im Krieg und ist ein wüstes Provisorium mit Durchfahrtstraße bis heute. Der Verkehr staut sich auf der rostigen Brücke über die Save, an deren fahlem Ufer mittellose Angler schlafen. Auf rohe Weise stellt die Stadt sich zur Verfügung, die Grundbedürfnisse ihrer Nutzer zu befriedigen: Auto, »Konzum«, Zeitvertreib (Bierbars und Spielhallen) und ein Dach überm Kopf überm Waschbeton, ein schützendes Dach. Das Durcheinander schreit zum Himmel. Es wird gebaut, was die jeweilige Gegenwart hergibt. Da hat jemand kurzfristig Geld gehabt für eine spiegelnde Fassadenverkleidung, dort musste schnellstens eine Garage hin oder eine Notunterkunft für Baustoffe, und beim Blick auf graues Gemäuer hatte ein Unternehmer plötzlich einen Einfall in Form einer vielfarbigen Neonleuchtschrift EXCHANGE (die bosnische Währung ist die konvertible Mark, noch lange konnte man mit alten D-Mark-Scheinen bezahlen). An Stadt- oder Zeitplanung oder Planung im Allgemeinen zu glauben, widerspräche der Erfahrung der letzten Jahre. In Autoabgasen rauchen alte Männer um einen dreibeinigen Tisch und spotten über die Hoffnung der Reisenden.
Wir fuhren zum Haus der Eltern in einem Dorf in der Republika Srpska, dem serbischen Teil von Bosnien-Herzegowina. Ich wusste über diese Gegend nur, was ich in der Zeitung gelesen hatte. Bauwerke und Landschaften konnte ich keiner Literatur zuordnen und suchte also und fand Bleibendes nur vom Krieg. Einige Häuser waren niedergebrannt, viele trugen Einschusslöcher wie eine weit verbreitete Hautkrankheit, und von der Hauptstraße aus konnte man in steter Folge Parolen in roter Farbe lesen, als müssten die Reisenden indoktriniert werden auf dem Weg in die noch heftiger umkämpften Gebiete: »Das hier ist Serbien«, und die Namen einheimischer Truppen in kyrillischen Buchstaben.
Sibovska war nicht umkämpft, es lebten schon vor dem Krieg nur Serben im Dorf, und ein Großteil von ihnen lebte hier nur in den Ferien im Sommer. Die meisten Häuser sind seit Jahren in Arbeit, Rohbauten sind häufiger als Viehherden, auch die orthodoxe Kirche ist noch unverputzt. Mancher großspurige Entwurf eines Chalets liegt schon seit Jahren im Hinterland brach. Die Landschaft ist zerfurcht und zergliedert wie der Staat, der zurzeit im achtmonatigen Wechsel regiert wird von einem Serben, einem Kroaten und einem Bosniaken. Cousin Marko vermutet, dass man in Dayton das Regierungssystem mit Absicht verkompliziert habe, um jeden Widerstand unter Überforderung ersticken zu lassen. Auch er kann nicht glauben, dass diese Ordnung lange halten wird. Fast zehn Jahre patrouillierte die Stabilisation Force der NATO-Schutztruppen die Gegend wie Aufsichtspersonal für Schwererziehbare (»… u.a. stellten Albanien, Argentinien, Jordanien und Südafrika Truppen oder Stabspersonal in unterschiedlichem Umfang.«) Die meisten Männer des Dorfes waren im Krieg oder im Ausland und im Vorgarten spiegeln sich die Erfahrungen der Gastarbeiter. Die teuersten Autos zeichnen schmale Schweizer Kennzeichen, nach Italien fahren die Saisonarbeiterinnen in Bussen zur Gemüseernte, die Männer auf die Baustellen.
Sanja bezeichnet ihre Eltern als Gastarbeiter, als ich danach frage –auch, wenn ein Gast nicht zum Arbeiten eingeladen werden sollte, schon klar. Aber Arbeitsmigranten kann sie ihre Eltern nicht nennen. Sie sind Anfang der 70er Jahre aus Jugoslawien in die schwäbische Provinz gezogen, der Vater hat beim Daimler geschafft, die Mutter als Putzfrau (diese Beschreibung findet Sanja unangemessen, weil sie über Jahre erlebt hat, wie ihre Eltern sich verbraucht haben in der Schichtarbeit). Jeden Urlaub haben sie in der Heimat verbracht und dort an ihrem Haus gebaut, dem anzusehen ist, dass es über die Jahre mit der Zeit und ihren Träumen gewachsen ist. Es ist inzwischen zweistöckig und hat dreieinhalb Balkone, die Rückseite ist unverputzt, auch weil eine Terrasse entstehen soll, auf der niemand sitzen wird, weil man immer schon im Schatten vor der Sommerküche besser sitzt, und in jedem Urlaub gibt es eine neue Idee, was aus dem ehemals schlichten Gebäude noch werden könnte (Eigenheim, wollte ich schreiben, weil es zunehmend eigen wird, aber Sanja findet zurecht, dass ironische Beschreibungen ihren Eltern nicht nahe kommen, und ich bemühe mich um einen warmen Ton, denn ich bewundere ihre heitere Ruhe).
Bei meinen früheren Besuchen der Eltern in der engen Etagenwohnung in Süddeutschland fielen mir Tschechows Provinzgestalten ein, die sich ein Leben lang nach einem anderen Ort sehnen oder nach einer erfüllenden Aufgabe, und ich war überzeugt, dass Sanjas Eltern nicht zurückkehren würden in die Heimat, sondern dieses Haus bloß als Projektionsfläche für nostalgische Hoffnungen diente. Aber inzwischen sind sie zurückgekehrt und das Haus wird weiter entworfen, als kämen auch die drei Kinder bald zurück oder hoher Besuch. Was aus diesem Haus einmal werden soll, wird in der Familie nicht besprochen. Die Zukunft reicht bis zum nächsten Winter, danach macht sie nur falsche Sorgen. Sanja sieht, dass ihre Eltern etwas hinterlassen wollen, aber über Geschenke spricht man nicht. »Es gibt immer genug zu tun«, ist die Antwort der Mutter auf meine Frage, wie es ihr geht.
Tiere und Pflanzen ordnen den Alltag. Das Menschenleben schmiegt sich an die Jahreszeiten und verläuft in Arbeit. Die Eltern sind Selbstversorger und stolz auf ihre Unabhängigkeit. Im Supermarkt kaufen müssen sie nur Salz und Öl, Mehl und Milch gibt es beim Nachbarn. Käme der nächste Krieg, sie dürften hoffen, er ginge an ihnen vorbei. Der Fernseher ist meist auf stumm gestellt und steht im Wohnzimmer wie ein Rahmen mit Wechselbildern einer entrückten Gegenwart. Von den Jahren in Deutschland bleibt wenig, ein kühles Staunen vor der Verwaltung des Wohlstands. Vom Bürgerkrieg und den nachfolgenden Regierungen und der Geschichte dieses Landstrichs bleiben Misstrauen und Vorsicht gegenüber Fremden, Funktionären und Systemen. Besuch wird jederzeit und allerorts mit selbstgebranntem Schnaps begrüßt, der die Distanz betäubt. Nach zwei Rakija zum Frühstück ähnelt das Gespräch einer Jam-Session. Die meiste Zeit aber ist es schwül und ähnlich. Wenn ich Tschechows Erzählungen verändern wollte, wären die Figuren hier stiller, gleichmütig und zu beschäftigt, um Sehnsucht zu entwickeln. Aber wohin triebe sie dann die Geschichte und was ist damit erzählt? Gelassenheit im besten Fall.
Am Abend kommt ein Verwandter zu Besuch, der einmal raus wollte aus dem Dorf und sich dafür als Professor ausgegeben hat und schließlich im Gefängnis gelandet ist und nun wieder bei seiner Mutter wohnt. Er wird belächelt wie ein überdrehtes Kind. Davon später mehr.