Die letzten Worte, die ich als Worte noch erkennen konnte
Im Abschiedsmonolog meines Vaters
Der keine wohlformulierte Rede mehr war
Sondern leibhaftig ein letzter STROM
(des schwindenden Bewusstseins)
Schwächer werdend
Ein Gemurmel
Oder Fließen aus einer alten in eine andere Zeit
Schließlich keine Mitteilung mehr
Mehr eine Auflösung, Loslösung
Erlösung hoffentlich
Die letzten warmen Worte, die ich von meinem Vater gehört habe
Während ich mit meiner Hand über seinen Kopf strich
Zur Beruhigung
Lauteten leise:
Schöne Spiele.
Die letzten Worte werden bedeutungsvoll besonders
Weil sie sein Reden und dieses Leben beschließen
Wie ein Fazit oder eine am Ende erst gefundene Überschrift
Die mein Vater gesucht hat
Die letzten Worte, die er gefunden hat
Für sich
Zur Beschreibung mir unsichtbarer Erinnerungen
Oder einer Aussicht auf jenseitige Möglichkeiten
Durchsicht oder Perspektive
Oder als besänftigende Bitte an uns, nicht zu klagen, sondern
Die vergehenden Gegenwarten zu sehen wie er im Rückblick:
Schöne Spiele.
Ich habe mich oft gefragt
Im Angesicht meines Vaters
Wie aus dieser zerstörten Kindheit
Dieser weit offene Mensch entwachsen konnte
Beschenkt mit Begeisterung, Leidenschaft und Witz
Mit den besten Voraussetzungen also
Für schöne Spiele
Und bin ohne Antwort bis heute.
Mein Vater, Papa, das Liebchen, der Schorschi
Jürgen Franz Josef wurde 1939 geboren
Wenige Wochen nach Beginn des kommenden Weltkriegs
Seinen Vater hat er nicht kennengelernt
Auf dem Arm der Mutter ist er dem Keller des eingestürzten Geburtshauses entkommen
An der Seite der Geschwister durch die Trümmer geflohen
Aber seine Antwort: es konnte nur besser werden danach
Scheint mir keine ausreichende Erklärung
Weil nicht aus jedem Kriegskind ein solcher Spiel- und Lebemann geworden ist.
Noch mit drei Jahren sprach er kein Wort
So hat er es uns später erzählt
Bis ihn der Nachbarsjunge fragte:
ob er dumm sei, weil er nicht reden konnte?
Dem hat er es aber gezeigt in all den Jahren danach.
Er war der Kleinste der Geschwister
Der große Bruder hat ihn entlastet von den Aufgaben des Erstgeborenen
Die große Schwester hat ihn umsorgt
So schenkten sie dem Kleinsten die Freiheit
Sich zu erfinden
Im Schutz der Großen
Hinauszuwachsen
Aus der ruinierten Landschaft (mit Mördergruben).
Und dann traf ihn meine zukünftige Mutter
Zentral in der Herzensgegend
Mit ihrem offenen Lachen
So stelle ich mir das vor
Und er konnte sich sicher sein ein Leben lang
Geliebt und bewundert zu werden
Noch für seine Zweifel und sein Schwanken
Und versuchte im Weiteren, dieser Liebe würdig zu werden
Und gemeinsam fanden sie den Mut, sich aufzumachen.
So wurde aus dem Trümmerkind der angehende Hagestolz
Den ich von frühen Fotos kenne
Aus dem 11-Uhr-Jürgen
Wie ihn die Freunde noch im Studium nannten
Weil die strenge Mutter abends wartete daheim
Ein Vater, der mit meiner Schwester und mir Müll sammelte
am Strand
Um ihn zur Kunst zu erklären
Dem alles Spielzeug wurde, was er am Straßenrand fand
Ein Kind von einem Manne
In Kinderläden, Bürgerinitiativen und Kunsträumen
Ein Spieler, ein Tänzer, Geliebter, Erzieher, Unterhalter und Komiker
Für jede und jeden von uns hier vermutlich ein anderer.
Spielerisch kann in unserer Familie alles heißen
Was nicht streng, nicht starr und stattdessen leicht und beschwingt ist
Er hat also sicher nicht das Gesellschaftsspiel gemeint
In seinen letzten Worten
Sondern das freie schöne Spiel
Das erfunden werden kann während des Spielens
Erst nachträglich als Spiel überhaupt erkennbar wird
Improvisation eigentlich
Ohne Regelkunde und ohne Siegeschancen
Wie Leben.
Meines Vaters allerliebster Schwiegersohn Marcelo
Erzählte am Sonntag im gemeinsamen Erinnern
Dass er von Jürgen nie ein negatives Wort gehört habe
Über seine Musik oder seine Malerei
Nur Ermutigung, Anregung und Lob
Und fast hätte ich es über diese Krankheit des Vergessens vergessen
Dass niemand hilfreicher über meine Schreibversuche sprechen konnte als mein Vater
Weil er nicht nur die Texte
Sondern auch meine Beweg- und Untergründe lesen konnte
Und weil sein Urteil nie abschließend sein wollte
Sondern öffnend
(Kein Urteil also)
Weil er immer etwas fand
Das es sich weiter zu entwickeln lohnte
Dem er nachspüren wollte
Gemeinsam am liebsten
Entwickeln war ein Lieblingswort
Möglichkeit ein anderes
Gemeinsam Möglichkeiten entwickeln
Hat er noch in der tiefsten Demenz sagen können
Diese Sehnsucht blieb
Vage und deshalb stabil.
Beim Spazieren bis zum letzten Tag
Konnte er in jedem Baum eine Gestalt entdecken
In wirrem Geäst einen dürren Engel
In Waldwegen fand er Geschichten
Und im Moos sah er eine Hose, eine lose
Oder einen Billardtisch
Oder ein versautes Tier.
Albern waren wir auch gern zusammen
Das reine Spiel ist ohne Sinn.
Bei dunkler Verstimmung half ein Blick nach oben
Im Himmel sah er Milch und Meer
In einer Wolke meine Mutter
In der anderen einen Schenkel
Oder eine weiche Brust
Denn eigentlich
Ich habe mich geschämt es zu sagen
Waren der letzten Worte drei
Aber das dritte ist mir ein Rätsel
Vor allem, weil es in der Mehrzahl steht:
Schöne Spiele Frauen
Hat mein Vater gesagt am Ende
Wahrscheinlich hat er meine Mutter doppelt gesehen
Anders will ich mir den Plural nicht erklären
Oder seine stille Mutter erinnert
Oder an seine Schwester gedacht
An seine geliebte Tochter, die Enkelinnen
Oder an Sonja, Bettina, Ute, Grete, Elke, Anke, Inken, Gabi, Christine, Renate, Tessa, Martina, Maria …
(Je länger ich nachdenke, desto verständlicher wird der Plural)
Er hat auch Männer geliebt
Aber aus Konkurrenzen ist er geflohen
Er suchte den Kontakt lieber heiter
Noch ein Lieblingswort
Schöne Spiele Frauen.
Ich bringe meinen Vater ungern und schamhaft nur mit Liebesspielen in Verbindung
Obwohl ich aus einem davon entstanden bin
Weil ein Kind den Vater klar und bei Sinnen sehen will vermutlich
Aber er wollte seine Leidenschaft nicht verstecken
Auch deshalb kommt sie hier vor
Und weil ich ihm und ihr dankbar bin
Dass ich hier sein darf
Wie selbstverständlich.
Beim gemeinsamen Duschen neulich
Als es ihm allein nicht mehr möglich war
Standen wir nackt voreinander in vertauschten Rollen
Wie in einer verdrehten Kindheitsszene
Und ich konnte mich erinnern
Wie er mich gewaschen hat vor mehr als 40 Jahren
Als er ein Vater war wie ich jetzt
Und wie er inne hielt beim Einseifen damals mit dem Satz:
Ich weiß nicht, wie ich Dich berühren darf
Weil er keinen Vater erlebt hatte, der ihm Vorbild hätte sein können
In Fragen der Nähe, der Körper und der Männlichkeit
Und wurde ein fragender, bedächtiger, verständnisvoller Vater.
(So haben wir uns erziehen lassen im Wechsel.)
Mein Vater musste sich seine Vorbilder suchen
Besser ohne müssen
Er konnte frei wählen, was ihm vorbildlich werden sollte
Und hat auch deshalb Skizzen dem Gemälde vorgezogen
Wände beweglich und leicht gemacht
Sich Höhlen aus Papier gebaut
Und tastende Leitern entworfen
Zu seiner Orientierung
Und für ein Gespräch darüber.
Wir hatten die letzten Jahre, uns langsam zu verabschieden
Manchmal schwer und oft auch lustig
Und ich bin sehr dankbar für diese Zeit
Und dafür, noch einen anderen Vater kennengelernt zu haben
Neben dem klugen und starken
Auch den bedürftigen und anschmiegsamen
(wie abgerüstet offen)
Und wie der manchmal scharfe Witz einer kindlichen Freude
Platz machte
Wie der dominante Vater weicher wurde
Und dankbar für Hilfe und jede Zärtlichkeit
Und wie das Tanzen seine Lust blieb durch alle Zeiten
Wie er sich aufrecht- und festhielt an seiner Kunst und der Familie
(seine heftigen Wutanfälle über das dauernde Vergessen klammere ich hier aus
und auch die schwere Liebesmühsal meiner Mutter die letzten Jahre)
Und wie aus dem bewussten Staunen
Am Ende pures, blankes und manchmal verzweifeltes Staunen wurde
Erschrecken auch
Dass das die Welt sein soll angeblich
Zunehmend unverständlich
Und was es dort alles zu können galt:
Du kannst doch auch nicht die Uhr lesen, oder?
Hat er meine Schwester gefragt
Als er die Uhr nicht mehr lesen konnte
Das schönste Spiel lässt die Zeit vergessen.
Und was genau die Zeit ist, können wir uns auch nicht erklären.
Es konnte passieren
Und es passierte oft
Dass ich mit meinem Vater den sogenannten Wüstener Weg entlang spazierte
Und er stehenblieb und das Gespräch unterbrach mit der Frage
Die mir als DIE FRAGE meines Vaters im Ohr bleibt
Wenn sie schwärmerisch ausgesprochen wird, als hätte man gerade eine Erscheinung gehabt:
Ist das nicht schön?
Und ich stand da und suchte das Schöne und fand es nicht
und er zeigte auf das Schöne, das ich nicht zu sehen imstande war und ich sah:
Einen sehr gewöhnlichen Laubhaufen
In dem er einen Zweig entdeckt hatte
Der ihm besonders schien
Mit Blättern daran
Wie Flügel.
Als ordentlich widerspenstiger Sohn habe ich mich dieser Frage
Die um Zustimmung bat
Ist das nicht schön?
Viele Jahre widersetzt, weil ich nicht folgen wollte
Und stattdessen abgeklärt im hässlichen Berlin gesessen
Und trotzig triste Bücher gelesen.
Aber am letzten Montag
Als Widerstand sinnlos geworden war
Sah ich einen ähnlichen Laubhaufen wieder
Und ich muss sagen: (alle Achtung!)
Wer immer diesen Laubhaufen in die Welt gesetzt hat
Die feinädrigen Blätter an den gelenkigen Zweigen
In dieser unnachahmlichen Ordnung
Getarnt als Dreck und Abfall
Der hat Sinn für Humor und Schöne Formen-Spiele.
Ich habe also mit meinem und durch meinen Vater sehen und staunen gelernt
Und er hat unermüdlich begeistert versucht
Das Wunderbare nachzubilden
Ihm nahezukommen
Es festzuhalten
Umzuformen
In seinen Objekten
Das Gleichgewicht gesucht
Zwischen Harmonie und Durcheinander
Eine Spannung zwischen Witz und Pathos
Ein Schweben zwischen Abfall und Transzendenz
Oft streben die Figuren in die Höhe
Haben kaum noch Halt auf Erden
Sind fast schon Striche in der Landschaft
Auf dem Weg in die Unsichtbarkeit.
Und wer begeistert sein konnte von seiner Kunst
Wie er von einem Laubhaufen
Dem war er innig verbunden.
Wir haben oft über EITELKEIT gesprochen
Weil sie uns beide umgetrieben hat
Und wir sie lästig fanden manchmal
Und doch auch notwendig wahrscheinlich
Um Schönes schaffen zu wollen
Aber wir sind in unserem Gespräch zu keinem Schluss gekommen
Mir fällt nichts ein, über das ich mit meinem Vater nicht hätte reden können
Und wenig, bei dem er mir nicht helfen konnte
(Mit einem Wink bisweilen).
Ich will nicht davon sprechen, wie ich ihn vermisse
Weil es mir dann schwerer auffällt.
Eine Trauerrede kann kein Leben fassen.
Wie könnte ich abschließend über meinen Vater erzählen?
(Eine gelingende Trauerfeier muss misslingen
Weil sie den endgültigen Abschied des geliebten Menschen
nicht störungsfrei wollen kann.)
Meine liebsten Bilder sind die letzten jetzt
Als er bloß noch Staub gesammelt hat
Vom Boden der Flure
Und festgehalten mit Klebstoff auf dunkler Pappe
(Schmutz auf Pappe wäre die Materialbeschreibung)
Und in diesen Staubbildern konnten wir
Das Weltall sehen, wenn wir es wollten
Seine Arbeit als Reinigungskraft
Den Zufall der Ordnung
Oder das Verschwinden
In dem er jetzt weiterlebt, wenn ich die Bilder wieder sehe.
Seine Bilder vom Verschwinden erleichtern uns das Erinnern.
Das ist Künstlerglück.
Auf den letzten Spaziergängen grüßte er jeden Entgegenkommenden
Weil sie ihm alle bekannt vorkamen
Menschen halt
Und wenn einige auf seinen Gruß keine Antwort gaben
Schimpfte er sie Löcher
Entweder weil er den ersten Teil des Schimpfworts vergessen hatte
Oder weil sie Löcher für ihn waren
In denen sein Gruß versank und verschwand ohne Widerhall und Hallo
(Er konnte auch garstig werden
Wenn das Gegenüber partout nicht mitspielen wollte
Dann war er kein leichter Patient.)
Und ganz am Ende
Als Sprechen überflüssig wurde
Zu flüssig, um noch verständlich zu sein
Die Sätze fanden kein Ende mehr
Auch keinen entschiedenen Anfang
Wurde Pfeifen seine liebste Äußerungsform
Und wir gingen pfeifend noch einmal den Wüstener Weg entlang
Pfeifend auf die Welt
Oder eher anerkennend:
Respekt, Du schöne Erde
Wie Du Dich ständig drehst
Da fehlten ihm die Worte.
Wir befinden uns in einer Kapelle
Und vom Himmel war bisher nur diesseitig die Rede
Von Schuldfragen noch gar nicht
Obwohl sie ihn umgetrieben haben seit seiner Messdienerzeit
Spätestens seitdem er im leeren Beichtstuhl onaniert hat, um Gott herauszufordern
Weil diese Rede auch der BERUHIGUNG dienen soll (vorübergehend).
Seitdem ich meinen Vater kenne
Hat er die katholische Kirche beschrieben als einen Ort der Angst
Das Anti-Spiele-Institut
Und doch gebetet von Zeit zu Zeit
Dass er beschützt werde.
Schöne Spiele Frauen
Ist ein diesseitiges Motto
Ganz von dieser Welt
Die schönste Spielerin ist gegenwärtig
Gespannt auf neue Möglichkeiten
Aufmerksam für ihre Mitspieler
Leidenschaftlich bei der Sache
(ohne Sinn für übergroße Sinnfragen)
Und kann gut verlieren
Ohne Groll
Das ganze Spiel
Gelassen und angstfrei
So will ich ihn sehen am Ende.
Aber das letzte Lied
Das er noch singen konnte
Weil der Text ihm bis zum Schluss in Erinnerung
Und die Melodie im Körper geblieben war
Hat dann doch eine höhere Macht angerufen
Mit einer Bitte um Frieden.
Seine Bedeutung hat sich verschoben
Seit unserem letzten gemeinsamen Singen
Im Kreis der Familie
Es stimmt anders jetzt
In anderen Zeiträumen
Aber weiterhin
Vor dem nächsten Spiel:
DONA NOBIS PACEM