Unser Spazieren hat kein Ziel. Den Fragen der Zukunft gehen wir vorerst aus dem Weg. Die Entgegenkommenden sind auf Abstand bedacht. Die Konkurrenz ist zeitweilig ausgesetzt. Vorübergehend sind alle Passanten dem Tod entkommen. Die Gesprächsfetzen ergänzen einander zu einer gemeinsamen Erzählung vom Glück, noch auf Erden zu sein. Die Schutzmaßnahmen der jeweiligen Regierung werden kritisch erörtert, weil sie das Leben begrenzen, wie wir es kannten. Heimlich freut sich ein Einzelner, dass er sich nicht mehr rechtfertigen muss, weshalb er allein und nicht geschäftlich unterwegs ist. Wer Geldsorgen hat, findet leicht einen Toten, der weniger besitzt. Darf ich mich mit Leichen vergleichen, fragt eine junge Frau im Vorbeigehen. Eine andere äußert sich tagespolitisch. Die Überlebenden haben Zeit, sich über den Wind zu unterhalten, wie er die Viren vertreibt, die Angst machen. So wandelt sich die Stimmung im Park von Schritt zu Schritt zwischen Fragen, Sorgen, Wetter und Gemeinsinn. Wie kostbar jeder Gang wird mit Dir, wenn wir in der Notaufnahme liegen könnten.
Auf dem ehemaligen Todesstreifen steht ein Birkenwald. Verwilderte Gleise erinnern an vergangene Verbindungen. Ist die Demokratie intakt, gefährdet, gehört die Gefährdung zu ihrem Wesen, muss mehr oder weniger reguliert, engagiert miteinander gestritten werden, in welchen öffentlichen Räumen? Noch der stille Einzelgänger zeigt sich um Antworten bemüht. Wir führen unsere Gespräche auf asphaltierten Wegen. Wir bilden einen Zusammenhang, der aus der Höhe vermutlich ein schönes Muster ergäbe. Ein Betrunkener kämpft gegen Gespenster um seinen Freiraum. Handwerker lachen Maskenträger aus. Die Frage, wie zu leben sei, wird praktisch beantwortet.
Der Park an der Invalidenstraße ist erst im letzten Jahr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Wir bedanken uns qua Nutzung. Auf der Wiese liegt ein Paar umschlungen, obwohl es kühl ist und Regen droht. Zwei Haushalten ist es erlaubt sich zu begegnen zurzeit. Auf den distanzierten Beobachter wirkt das Balgen der beiden ungewohnt unbeschwert. Das Wort »Impfneid« ist neu, der Kampf um Privilegien nicht. Wir üben uns im Gehenlassen, wir verbummeln die Sorge. Mein Begleiter hat am Tag zuvor ein Buch gelesen über die unbewohnbare Erde und freut sich seiner Blicke jetzt. 80 000 Tote füllen eine Statistik. Ein Nichtsnutz und ein Tagedieb gehen miteinander im Kreis. Ausgelassenheit ist heute nicht mehr zu erwarten. Spazieren ist ziellos.
Eine Kugel wünsche ich mir von einem jungen Mann in blauer Schürze und wollte doch eigentlich sagen: »Ich kann nicht mehr.« Auch der Beschürzte hat Grund zum Unmut. Auch er will schreien und reißt sich zusammen in seinem freundlichen Befehl: »Lass es Dir schmecken.« Wie warm es sich anfühlt, von Fremden geduzt zu werden, wenn sie mobile Eisverkäufer sind. Diese Art der Kommunikationsstörung erfasst massenhaft Mitmenschen. Sie wollen brüllen und bestellen stattdessen eine neue Hose. Sie wollten beten und sehen sich vor einem Bildschirm wieder. »Pass auf Dich auf«, rät mein Begleiter zum Abschied, als sähe ich aus wie jemand, der auf sich achtgeben müsste. »Wie?«, fällt mir erst zu fragen ein, als der Ratgeber schon verschwunden ist.
So geht es zu im April in Mitte, und dabei haben wir das Artensterben noch nicht einmal erwähnt. Deshalb kurz: Kein Spaziergänger ist unschuldig. Er trägt das Privileg, sinnlos umherstreifen zu dürfen. Mit Fassung und Demut tragen die Parkanlagennutzer das Kreuz der strukturellen Teilhabe. Auch deshalb wirft niemand einen Stein. Wir werden moderner von Tag zu Tag. Manchem wird seine Beichte zu einer Suada, andere wären anscheinend lieber unsichtbar. Ich grüße einen weit entfernten Bekannten, an den ich lange nicht mehr gedacht habe, obwohl er krank ist. Ich winke zur Entschuldigung. Mit etwas Abstand könnte man das Ganze für einen gewöhnlichen Freitag halten.