Sie sind arm, sie sorgen sich, leiden. Und doch darf man die Relationen nicht aus dem Blick verlieren: Die ärmsten fünf Prozent der Amerikaner haben im Schnitt ein höheres Einkommen als knapp siebzig Prozent der Weltbevölkerung.
Oder: Die ärmsten fünf Prozent der Amerikaner verdienen im Schnitt mehr als die reichsten fünf Prozent der Inder. Unvorstellbar, aber so steht es in einem Buch eines ehemaligen Weltbankökonomen.
1870 war die Ungleichheit in der Welt etwas niedriger als heute. Unterschiede bestanden damals vor allem zwischen den einzelnen Schichten: ein amerikanischer Arbeiter, ein indischer Bauer und ein kenianischer Schafhirte waren ähnlich arm. Die nationale Zugehörigkeit war nicht entscheidend: Sie alle hatten gerade genug, um damit auszukommen. Heute ist nicht mehr die Klassenzugehörigkeit, sondern die Nationalität der entscheidende Faktor: Ein armer Amerikaner ist jetzt nicht nur sehr viel reicher als ein indischer Bauer oder ein kenianischer Schafhirte, sondern auch wie ein indischer Beamter oder jemand, der in Kenia einen kleinen Laden hat. Das kommt uns selbstverständlich vor, allerdings ergibt sich daraus logisch eine interessante Schlussfolgerung: Die Idee, dass alle Besitzlosen zusammen für ein gemeinsames Ziel kämpfen – »Proletarier aller Länder vereinigt euch« –, hat heute nicht mehr dieselbe ökonomische Basis wie zu der Zeit, als sie artikuliert wurde.
Und: Der nächstliegende Weg zu einem ökonomisch besseren Leben ist die Migration.
Illustrieren wir das mit noch mehr Zahlen: Selbst die ärmsten fünf Prozent der Deutschen haben ein höheres Durchschnittseinkommen als die reichsten fünf Prozent in der Elfenbeinküste. Die große Mehrheit der Menschen in der Elfenbeinküste wissen – ahnen –, dass sie zumindest ein kleines bisschen reicher werden, wenn sie nach Deutschland auswandern.
Anders als noch vor hundert Jahren ist Migration heute nicht mehr der Versuch, in Gesellschaften, die sich scheinbar im Aufbau befinden, zu Reichtum zu gelangen: »to make it in America«. Inzwischen reicht es, im Zielland zu den Armen zu gehören, um wesentlich besser gestellt zu sein als im Herkunftsland, der eigenen Heimat. Migration ist daher zur größten Bewegung der heutigen Zeit geworden, als Hoffnung und als Bedrohung, die Arena, in der die Armen und die Reichen dieser Welt ihre Auseinandersetzungen austragen. Für Millionen ist die Zukunft keine andere Zeit, sondern ein anderer Ort.
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