Es handelt sich hierbei um das zweite und dritte von sechs Kapiteln, die Mark Twain 1908/09 verfasste, die aber erst 1972 unter dem Titel »Little Bessie Would Assist Providence« in Mark Twain’s Fables of Man vollständig veröffentlicht wurden. Harald Beck hat sie aus dem Englischen übersetzt. Das erste Kapitel ist hier zu lesen.
Kapitel 2. Erschaffung des Menschen
Mama: Du unfolgsames Kind, hast du dich wieder mit diesem gottlosen Hollister eingelassen?
Bessie: Na ja, Mama, er ist schon interessant, auch wenn er schlimm ist, und ich kann nicht anders, ich mag nun mal interessante Menschen. Das ist das Gespräch, das wir hatten:
Hollister: Bessie, angenommen, du nimmst etwas Fleisch, Knochen und Fell und machst eine Katze daraus und sagst zu ihr: Nun, du darfst zu keinem Wesen grausam sein, sonst droht dir Strafe oder der Tod. Und angenommen, die Katze ist unfolgsam und fängt eine Maus, quält sie und bringt sie um. Was würdest du mit der Katze tun?
Bessie: Nichts.
Hollister: Warum?
Bessie: Weil ich weiß, was die Katze sagen würde. Sie würde sagen: Das ist meine Natur, ich konnte nicht anders; ich hab meine Natur nicht gemacht, du warst das. Und also bist du auch verantwortlich für das, was ich getan hab – nicht ich. Ich könnte ihr keine Antwort darauf geben, Mr Hollister.
Hollister: Das ist wieder einmal der Fall von Frankenstein und seinem Monster.
Bessie: Was ist das?
Hollister: Frankenstein nahm etwas Fleisch, Knochen und Blut und machte einen Menschen daraus. Der Mensch lief davon und fing an, überall zu vergewaltigen, rauben und töten, und Frankenstein war entsetzt und verzweifelt und sagte: Ich hab ihn erschaffen ohne seine Zustimmung, und deshalb bin ich verantwortlich für all die Verbrechen, die er begeht. Ich bin der Verbrecher, er ist unschuldig.
Bessie: Er hatte natürlich recht.
Hollister: Das ist auch meine Einschätzung. Es ist einfach wieder der Fall von Gott und den Menschen und dir und der Katze.
Bessie: Wie das?
Hollister: Gott erschuf den Menschen ohne seine Zustimmung und erschuf auch seine Natur; erschuf sie bösartig, nicht engelhaft und sagte dann: Seid engelhaft, oder ich bestrafe und vernichte euch. Aber trotzdem ist Gott verantwortlich für alles, was die Menschen tun. Da kommt er nicht daran vorbei. Es gibt nur einen Verbrecher, und es ist nicht der Mensch.
Mama: Das ist grässlich! Das ist bösartig, blasphemisch, pietätlos, furchtbar!
Bessie: Ja, aber es ist wahr. Und ich werde keine Katze erschaffen. Ich würd’s sein lassen, wenn ich keine gute erschaffen könnte.
Kapitel 3
Mama, wenn einer, der Jones heißt, einen, der Smith heißt, umbringt nur zum Spaß, ist das Mord, nicht wahr, und Jones ist ein Mörder?
Ja, mein Kind.
Und man darf Jones dafür bestrafen?
Ja, mein Kind.
Wieso, Mama?
Wieso? Weil Gott in den Zehn Geboten verboten hat zu töten, und deshalb begeht jeder, der einen anderen ermordet, ein Verbrechen und muss dafür büßen.
Aber Mama, nimm mal an, dass Jones von Geburt an so ein gewalttätiges Temperament hat, das er nicht bezähmen kann?
Er muss sich bezähmen. Gott verlangt es.
Aber er erschafft doch sein Temperament nicht selber, Mama, er ist damit geboren wie der Hase und der Tiger. Wie sollte er also dafür zur Verantwortung gezogen werden?
Weil Gott sagt, dass er dafür verantwortlich ist und sein Temperament bezähmen muss.
Aber das kann er nicht, Mama, und darum, meinst du nicht, dass Gott den Mord verübt und verantwortlich ist, weil Er ihm das Temperament gegeben hat, das er nicht bezähmen kann?
Ruhe, mein Kind! Er muss sich bezähmen, denn Gott verlangt es, und damit Schluss. Damit hat es sich erledigt, und es gibt nichts zu diskutieren.
(Nach einer nachdenklichen Pause.) Mir scheint, es ist damit nicht erledigt. Mama, Mord ist Mord, nicht wahr? Und wer ihn begeht, ist ein Mörder. Das ist eine schlichte, einfache Tatsache, nicht wahr?
(Misstrauisch.) Worauf willst du denn jetzt hinaus, mein Kind?
Mama, als Gott Jones entwarf, hätte Er ihm doch das Temperament eines Hasen geben können, wenn Er gewollt hätte, nicht wahr?
Ja.
Dann würde Jones niemanden umbringen und müsste nicht gehenkt werden?
Richtig.
Aber Er hat es vorgezogen, Jones das Temperament zu geben, das ihn Smith hat umbringen lassen. Wieso ist Er dann nicht verantwortlich?
Weil Er Jones auch eine Bibel gab. Die Bibel hat Jones hinreichend gewarnt, keinen Mord zu begehen, und wenn Jones ihn verübt, ist allein er verantwortlich.
(Eine weitere Pause.) Mama, hat Gott die Hausfliege gemacht?
Freilich, mein Liebling.
Wozu?
Aus einem großartigen und guten Grund und um Seine Macht zu zeigen.
Was ist der großartige und gute Grund, Mama?
Das wissen wir nicht, mein Kind. Wir wissen nur, dass Er alles aus einem großartigen und guten Grund tut. Aber das ist ein zu großes Thema für eine liebe kleine Bessie wie dich, die nur wenig über drei Jahre alt ist.
Mag sein, Mama, aber es interessiert mich ganz ungemein. Ich hab über die Fliege gelesen im neuesten Naturwissenschaftsbuch. In diesem Buch wird sie als »das gefährlichste und mörderischste Tier auf der Welt bezeichnet, das jedes Jahr Hundertausende von Männern, Frauen und Kindern tötet, indem es tödliche Krankheiten unter ihnen verbreitet«. Denk nur, Mama, das tödlichste von allen Tieren! Aller Wahrscheinlichkeit nach das mörderischste Lebewesen, das Gott geschaffen hat. Hör dir an, was da steht:
Nun, die Fliege hat einen ausgeprägten Geruchssinn für Schmutz aller Art. Wann immer es etwas davon gibt im Umkreis von hundert Metern, macht sich die Fliege auf den Weg, um ihr Maul und alle die klebrigen Härchen an ihren sechs Beinen mit Schmutz und Krankheitskeimen zu beschmieren. Ein oder zwei Sekunden genügen, um viele tausend von diesen Krankheitskeimen aufzusammeln, und schon ist die Fliege unterwegs zur nächsten Küche oder zum nächsten Esszimmer. Dort krabbelt die Fliege über Fleisch, Butter, Brot, Kuchen, alles, was sie nur finden kann, und oft gelangt sie in den Milchkrug und lädt bei jedem Schritt eine große Menge von Krankheitskeimen ab. Die Hausfliege ist so widerlich, wie sie gefährlich ist.
Ist das nicht furchtbar, Mama? Eine Hausfliege produziert zweiundfünfzig Milliarden Nachkommen in 60 Tagen im Juni und Juli, und die gehen her und krabbeln über Kranke und waten durch Eiter und Auswurf und die Fäulnis von Wunden und schmieren sich voll mit jeder Art von Krankheitskeimen, dann fliegen sie zu jedermanns Esstisch und wischen sich an der Butter und den anderen Nahrungsmittel ab, und viele, viele schmerzhafte Krankheiten und zuletzt der Tod sind auf diese abscheuliche Geschäftigkeit zurückzuführen. Mama, sie bringen allein in New York 7000 Menschen um, jedes Jahr – Menschen, die ihnen nichts getan haben. Grundlos zu töten ist Mord – das bestreitet doch niemand. Mama?
Und?
Haben die Fliegen eine Bibel?
Natürlich nicht.
Du hast gesagt, es ist die Bibel, die den Menschen verantwortlich macht. Wenn Gott ihm nicht die Bibel gäbe, um die Natur, die Er ihm willentlich gegeben hat, zu überlisten, wäre Gott verantwortlich. Er hat der Fliege ihre mörderische Natur gegeben und hat sie ausgeschickt, ohne von der Bibel oder einer anderen Einschränkung gehindert zu werden, Mord im großen Stil zu verüben. Also ist Gott selbst verantwortlich. Gott ist ein Mörder. Mr Hollister sagt das. Mr Hollister sagt, Gott kann nicht ein moralisches Gesetz für den Menschen machen und ein anderes für sich. Er sagte, das wäre lächerlich.
Halt bloß den Mund! Ich wünschte, dass dieser leidige Mr Hollister in der H – öhle wäre! Er ist ein unwissender, unvernünftiger, unlogischer Esel, und ich hab dir immer und immer wieder gesagt, dass du seinen schädlichen Umgang vermeiden sollst.