Es handelt sich hierbei um das erste von sechs Kapiteln, die Mark Twain 1908/09 verfasste, die aber erst 1972 unter dem Titel »Little Bessie Would Assist Providence« in Mark Twain’s Fables of Man vollständig veröffentlicht wurden. Harald Beck hat es aus dem Englischen übersetzt. Die Kapitel 2 & 3 sind hier zu lesen.
Kapitel 1
Die kleine Bessie war fast drei Jahre alt. Sie war ein gutes Kind und nicht oberflächlich, nicht leichtfertig, sondern nachdenklich und überlegt und neigte sehr dazu, über den Grund der Dinge nachzudenken und zu versuchen, das mit den Konsequenzen in Einklang zu bringen. Eines Tages sagte sie –
»Mama, warum gibt es so viel Schmerz und Kummer und Leid? Wozu ist das alles gut?«
Es war eine leichte Frage, und es fiel Mama nicht schwer, sie zu beantworten:
»Es ist zu unserem Wohl, mein Kind. In Seiner Weisheit und Güte schickt uns der Herr diese Heimsuchungen, um uns zu strafen und zu besseren Menschen zu machen.«
»Schickt wirklich Er sie uns?«
»Ja.«
»Schickt Er sie alle, Mama?«
»Ja, Liebes, alle. Keine kommt zufällig. Er allein schickt sie uns und immer aus Liebe zu uns und um uns zu bessern.«
»Ist das nicht seltsam!«
»Seltsam? Also nein, so hab ich das nie gesehen. Ich hab noch nie gehört, dass es jemand seltsam fand. Es schien mir immer natürlich und recht zu sein und weise und überaus gütig und barmherzig.«
»Wer hat das zuerst so gesehen, Mama? Warst du das?«
»Oh nein, Kind, das hat man mir beigebracht.«
»Wer hat’s dir so beigebracht, Mama?«
»Also wirklich, ich weiß nicht – ich kann mich nicht erinnern. Meine Mutter, vermute ich, oder der Prediger. Aber das ist etwas, das jedermann weiß.«
»Also jedenfalls ist es wirklich seltsam. Hat Er Billy Norris den Typhus gegeben?«
»Ja.«
»Wozu?«
»Na, um ihn zu strafen und zu einem guten Menschen zu machen.«
»Aber er ist gestorben, Mama, also konnte es ihn nicht zu einem guten Menschen machen.«
»Na, dann nehme ich an, es hatte einen anderen Grund. Wir wissen, dass es ein guter Grund war, was auch immer.«
»Was meinst du, Mama, was es war?«
»Oh, du stellst so viele Fragen! Ich glaube, es war um seine Eltern zu strafen.«
»Aber dann war das nicht recht, Mama. Warum sollte er ihretwegen sein Leben verlieren, wenn er gar nichts getan hatte?«
»Oh, ich weiß nicht! Ich weiß nur, dass es aus einem guten, weisen und barmherzigen Grund geschah.«
»Welchem Grund, Mama?«
»Ich glaube – ich glaube – nun, es war ein Urteilsspruch. Es geschah, um sie für eine Sünde zu strafen, die sie begangen hatten.«
»Aber er war’s doch, der bestraft wurde, Mama. War das recht?«
»Bestimmt, bestimmt. Er tut nichts, was nicht gut und weise und barmherzig ist. Du kannst diese Dinge jetzt noch nicht verstehen, Liebes, aber wenn du erwachsen bist, wirst du sie verstehen und sehen, dass sie weise und gerecht sind.«
Nach einer Pause:
»Hat Er das Dach einstürzen lassen über dem Fremden, der versucht hat, die gelähmte alte Frau vor dem Feuer zu retten, Mama?«
»Ja, mein Kind. Warte! Frag mich nicht, warum, denn ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es dazu diente, jemanden zu strafen oder Seine Macht zu zeigen.«
»Der betrunkene Mann, der seine Mistgabel in Mrs Welchs Baby gestochen hat, als –«
»Lass es gut sein, du brauchst nicht in Einzelheiten gehen, es war um das Kind zu strafen, so viel steht jedenfalls fest.«
»Mama, Mr Burgess sagte in seiner Predigt, dass uns Milliarden kleiner Wesen geschickt werden, um uns Cholera, Typhus und Wundstarrkrampf zu bringen und mehr als tausend andere Krankheiten und –Mama, schickt Er die?«
»Oh, bestimmt, Kind, bestimmt. Gewiss.«
»Warum?«
»Um uns zu stra-fen! Hab ich dir das nicht immer und immer wieder gesagt?«
»Das ist furchtbar grausam, Mama! Und blöd! Und wenn ich –«
»Still, oh still! Willst du den Blitz auf uns lenken?«
»Du weißt, dass der Blitz tatsächlich letzte Woche gekommen ist, Mama, und in die neue Kirche eingeschlagen hat, die abgebrannt ist? Sollte das die Kirche strafen?«
(Erschöpft). »Oh, ich nehm’s an.«
»Aber da ist ein Wildschwein umgekommen, das nichts getan hat. War das, um das Wildschwein zu strafen, Mama?«
»Liebes Kind, willst du nicht ein bisschen raus und spielen? Wenn du möchtest –«
»Mama, denk dir nur! Mr Hollister sagt, es gibt keinen Vogel oder Fisch, kein Reptil oder anderes Tier, das nicht einen Feind hat, den ihm die Vorsehung gesandt hat, um es zu beißen und zu jagen und zu quälen und zu töten und sein Blut zu saugen und es zu strafen und gut und religiös zu machen. Ist das wahr, Mutter – denn wenn’s wahr ist, warum hat Mr Hollister dann darüber gelacht?«
»Dieser Hollister ist eine skandalöse Person, und ich will nicht, dass du auf irgendetwas Acht gibst, was er sagt.«
»Aber Mama, er ist sehr interessant, und ich glaube, er will ein guter Mensch sein. Er sagt, die Wespen fangen Spinnen und stopfen sie in ihre Nester im Boden – lebend, Mama –, und da leben sie und leiden sie viele, viele Tage, und die hungrigen jungen Wespen kauen an ihren Beinen und nagen sich in ihre Bäuche die ganze Zeit, um sie gut und religiös zu machen und Gott für Seine unendliche Gnade zu loben. Ich glaube, Mr Hollister ist ganz reizend und immer freundlich, denn als ich ihn fragte, ob er eine Spinne so behandeln würde, sagte er, er hoffte, dass er verdammt würde, wenn er das täte; und dann hat er –«
»Mein Kind! Oh, um Himmels willen hör jetzt –«
»Und er sagt, Mama, dass die Spinne dazu bestimmt ist, die Fliege zu fangen und ihre Klauen in ihr Gedärm zu schlagen und ihr Blut zu saugen und zu saugen und zu saugen, um sie zu strafen und zu einem Christen zu machen, und immer, wenn die Fliege vor Elend und Schmerz mit den Flügeln summt, kann man am dankbaren Auge der Spinne sehen, dass sie dem Spender alles Guten dankt – sie ist rettende Gnade, wie er sagt, und er –«
»Oh, wirst du denn nie müde bei dem Geplapper! Wenn du rausgehen willst spielen –«
»Mama, er sagt selbst, dass uns aller Kummer und Schmerzen und Elend und scheußliche Krankheiten und Gräuel und Gemeinheiten als Gnade und Wohlwollen gesandt werden, um uns zu strafen, und er sagt, es ist die Pflicht eines jeden Vaters und jeder Mutter, der Vorsehung zu helfen, so gut sie nur können, und sagt, das können sie nicht, indem sie einfach nur schimpfen und prügeln, denn das genügt nicht, es ist schwach und unzulänglich – der Weg der Vorsehung ist der beste, und es ist die Pflicht aller Eltern und aller Leute, dabei zu helfen, alle zu strafen, sie zu verkrüppeln und zu töten und verhungern und erfrieren und sie an Krankheiten verfaulen zu lassen und sie zu Mord und Diebstahl und Schmach und Schande zu verleiten, und er sagt, die Erfindung der Vorsehung, um uns und die Tiere zu strafen, ist die brillanteste Idee, die es je gab, und selbst ein Idiot könnte sich nichts Glänzenderes ausdenken. Mama, mein Bruder Eddie braucht eine Strafe und zwar sofort: Und ich weiß, wo du die Pocken und die Krätze und die Diphtherie und die Knochenfäule und Herzkrankheit und Schwindsucht auftreiben kannst und – Liebe Mama, bist du ohnmächtig geworden! Ich lauf gleich und bring Hilfe! Na, das kommt davon, wenn man bei diesem heißen Wetter in der Stadt bleibt!«