Das erste Mal habe ich 2015 ein open-mike-Wochenende in Berlin verbracht. Ich besuchte einen Freund, den ich bereits seit Schulzeiten kenne. Am Samstagabend gingen wir in Prenzlauer Berg essen und fuhren hinterher nach Kreuzberg, um auf die OPEN MAG PARTY, die inoffizielle Party zum open mike, zu gehen. Durch den Sonntag schleppte ich mich wacker. Den Weg zum Heimathafen aber, der Austragungsstätte des Literaturwettbewerbs, trat ich nicht mehr an.
Knapp zwei Jahre dauerte es schließlich, bis ich den Hinterhof der Karl-Marx-Straße 141 und den Heimathafen Neukölln betrete. Der große Saal mit Theaterbühne, das Rednerpult und der kleine Tisch mit Mikrofon, die gepolsterten Stühle … Auch ohne Publikum besitzt dieser Raum eine beeindruckende Aura. Ich stehe mittendrin und denke, irgendwann an diesem Wochenende werde auch ich auf die Bühne gehen und lesen. Dann allerdings werden Hunderte auf den gemütlichen Stühlen sitzen, mir zuhören, zusehen, und hoffentlich werde ich die Aufregung überwinden, oder wenigstens im Zaum halten können.
Als alle 20 Finalistinnen und Finalisten, wie sie uns offiziell nennen, zusammenkommen, treffe ich Ralph Tharayil wieder. Wir wurden einander auf dem Prosanova | 17 vorgestellt, von Norwin, Ralphs Bruder – im Grunde war unsere Begegnung auf dem Festival nichts weiter als ein Händeschütteln. Ralph muss sich nun auch vergewissern: »Woher kennen wir uns noch mal?« Ich freue mich, ihn zu sehen. Wir reden Stuss, über Nervosität, schwache Blasen und Apps, die das alles regulieren können. Im Plauderton unterhalten sich auch die anderen. Die meisten wirken locker, unaufgeregt. Es wird über gute Startplätze diskutiert. Viele wünschen sich, am Anfang lesen zu dürfen, um es hinter sich zu haben und nachts auf die Party gehen zu können. Ich sehe das ähnlich. Dann wird gelost. In alphabetischer Reihenfolge dürfen wir jeweils einen Briefumschlag auswählen. Anschließend werden die Startnummern präsentiert. Alle vor mir dürfen noch heute, Samstag, auf die Bühne. Nun werde ich aufgerufen. Ich schaue mir den Stapel an, denke, ach egal, und nehme den obersten Umschlag. Ich soll mich umdrehen, zum Fotografen schauen und den Umschlag öffnen. Okay. Es ist die … 20.
Ein kollektives »Oh« geht durch die Reihen. Ich lächle kurz fürs Foto. »Mist.« »Oje.« »Will niemand tauschen?« Die Antworten sind eindeutig: Tauschen ist ausgeschlossen. Es bleibt dabei, Sonntag, etwa 13:45 Uhr.
Dann ist es so weit: Der Saal ist voll, es wird still, das Bühnenlicht leuchtet Magdalena Kotzurek aus. Und ihr Text beginnt mit einer Reise nach Kołobrzeg. »Kołobrzeg? Das Kołobrzeg an der polnischen Ostsee?« Das gibt’s doch nicht, denke ich, und schaue mich zu beiden Seiten um, noch ein Text, der in Polen spielt, wie meiner. Das bedeutet ja, der erste und letzte Text dieses Wettbewerbs haben Polen als Kulisse gewählt. Es wird also eine gewisse Rahmung geben bei diesem Wettbewerb. Das gefällt mir.
Am Abend sitze ich mit Freunden in einer Neuköllner Bar. Wir trinken Bier und eine Runde Wodka, den alle als Grasovka kennen. »In Polen heißt der Wodka mit dem Grashalm Żubrówka«, sage ich, »vermutlich, weil die Wiesen rund um Żubr liegen.« Alina Herbing und Benjamin Quaderer stoßen zu uns, trinken einen mit. Wir reden, was auch sonst, über Literatur. Jemand sagt: »Thilo Dierkes hat letztes Jahr auch als Letzter gelesen. Und – er hat gewonnen.« Mittlerweile bin ich wirklich froh, erst morgen dran zu sein. Die Aufregung und die innere Anspannung sind gelöst. Vielleicht bleibt das ja so.
Als die Gruppe aufbricht, um auf die Party zu gelangen, nehme ich die Bahn, um rechtzeitig ins Bett zu kommen. Ich muss ja morgen fit sein. Um kurz vor Mitternacht schalte ich das Licht aus, drehe mich zur Seite und nach einiger Zeit schlafe ich ein.
Der gute Wille allein reicht aber nicht aus. Ich wache mehrmals auf, wälze mich hin und her, stelle mir den großen, gefüllten Saal vor. Ich wünschte, ich könnte meinen Kopf ausschalten bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich auf die Bühne muss. Das klappt nur teilweise. Ich dämmere weg, wache aber wieder mit hohem Puls auf. Hätte ich mal nicht den obersten Briefumschlag genommen.
Dann ist es Sonntag und dann startet irgendwann auch der letzte Leseblock. Mein Herz donnert, ich gehe mal wieder die Treppen runter auf die Toilette. Als ich aus der Kabine herauskomme, sagt Magnus: »Hey, wie bei Eminem. 8 Mile, was?« Seine Augen sind glasig, die Haare zerzaust. Ich nicke und lächle ihm zu, bevor ich wieder die Treppen hoch flitze, in den großen Saal gehe und auf der Bühne Platz nehme. Als ich da oben sitze, das Saallicht wird gedimmt, das Rampenlicht auf mich gerichtet, und ich die ersten Sätze von Dorfköter ins Mikrofon spreche, ist das Donnern weg. Endlich bin ich hier.
Das ist, was ich mir die ganze Zeit gewünscht habe.