A steht für Apfel
B für Ball
C steht für Computer
Ich habe den Volltext-Newsletter abonniert – pflichtbewusst –, um mir einen Überblick über den Literaturbetrieb zu verschaffen. Meine Freunde interessieren sich nicht für den Literaturbetrieb. Ich interessiere mich dafür, und gleichzeitig interessiert es mich überhaupt nicht. Ich kann nicht wegschauen. Wenn es den Volltext-Newsletter nicht gäbe, ich hätte nichts gewusst von Monika Maron, von Elisabeth Edls Flaubert-Neuübersetzungen, von den Preisträgerinnen, von den Neuentdeckungen (Hitlers Vater) und Wiederentdeckungen (Frankenstein) – ich habe ein Déjà-vu gerade. Am 10.02.2021 um 22.46 bekam ich den neuen Volltext-Newsletter, der schon im Betreff eröffnete mit: Daniel Kehlmann schaut in die Zukunft und schreibt Geschichten mit einem Algorithmus als Co-Autor (Paywall). Da die meisten Artikel im Volltext-Newsletter hinter irgendeiner Paywall sind, kann ich sie nicht lesen. Aber warum musste ich an ein Schachturnier denken? Warum musste ich an einen Wettbewerb denken und nicht an Kooperation?
Ich erlebe seit meiner Kindheit verschiedene psychische Aussetzer. Meine Mutter hat immer vermieden, mein manchmal merkwürdiges Verhalten und meine irritierenden Äußerungen zu pathologisieren. Mit der Ausnahme meines hilfesuchenden Lebens in den Jahren 2012-2013 danke ich ihr dafür. Meine Eltern kommen aus dem New Age. Ich bin ein Metall-Schaf. Manchmal haben mich die häufigen Déjà-vus in eine bizarre Panik fallen lassen.
Verzweiflung ist ein richtig altes Gefühl. Es kann alles überstrahlen, jede psychologische Regung, die Labels abwaschen, den PinkLady-Aufkleber auf einem Apfel im Regen, das Weinen, der Blick von Tränen unterbrochen, das exakte Gegenteil von Vision als reine Optik. Zerklüftung, Unterbrechung, Überschreibung, Blindheit, die konzentrischen Kreise der Traurigkeit, und du schließt die Augen und wirst hineingerissen in den Vortex, und der führt dich zur traurigsten Sache der Welt: der Traurigkeit selbst.
Fernando Pessoa, der exzentrisch war, ohne, dass ihm jemand dabei zuschaute, schreibt in Tabakladen mit seinem fiktiven Autor Álvaro de Campos:
»Ich bin nichts.
Ich werde immer nichts sein.
Ich kann nicht wollen, etwas zu sein.
Ich habe in mir doch alle Träume der Welt.«
Emily Dickinson, die exzentrisch war, ohne, dass ihr jemand dabei zuschaute, schreibt in Amherst in weißen Kleidern:
»I’m nobody! Who are you?
Are you – Nobody – too?
Then there’s a pair of us!
Don’t tell! they’d advertise – you know.«
Simone Weil, die keine Exzentrikerin war, die daran scheiterte, das Gegenteil der Exzentrikerin zu werden, apersönlich zu sein, sich in ein Inkognito aufzulösen – weil es der Frau nicht zugelassen wird, ein Mann der Massen zu werden –, schreibt in Schwerkraft und Gnade:
»Wenn das Ich,
das einzige ist,
was wir besitzen,
müssen wir es zerstören.«
In einem BBC-Artikel – den ich 2017 las während einer Recherche zu der quasi-religiösen AI Roko’s Basilisk und der Rationalisten-Community lesswrong.com um den ominösen AI-Forscher Eliezer Yudkowsky und jetzt nach kurzer Suche (when ai take over human labour bbc) gefunden habe – prognostizieren AI Experts, dass die AI in 10 bis 75 Jahren mit einem Erwartungswert = 30 Jahren einen New-York-Times-Bestseller schreiben wird. Damit rangiert diese Arbeit im oberen Drittel der früh von AI übernommenen Tätigkeiten. Darauf folgt der Sieg bei der William Lowell Putnam Competition, dann die Ausführung chirurgischer Eingriffe, dann mathematische Forschung. In 2016 + Erwartungswert = 120 Jahren, so die AI-Experten, wird die Arbeit vollständig automatisiert sein. Worauf freust du dich am meisten?
Ich frage mich immer: Die AI? AI? Eine AI? Wird eine AI superintelligent? Und wird dann AI superintelligent? Und ist es dann die AI, die den Menschen von der Arbeit befreit? Und gibt es dann eine AI, die den Menschen versklavt?
Am 12.12.2003, an meinem 12. Geburtstag, als mir meine Eltern meinen ersten Computer schenkten, einen Medion-PC von Aldi, kam ich zur Überzeugung, dass die Zukunft nicht dieses weit entfernte Ding am Horizont war, sondern dass die Zukunft auf mich mit wahnsinniger Geschwindigkeit zuraste. Und ungefähr 2011/12, während ich versuchte den Bundestag zu besetzen, kam ich zur Überzeugung, dass die Zukunft und die Gegenwart ineinandermorphen und das gleiche Ding wurden. Kann das immer so bleiben? Wir werden doch nicht ewig in dieser Zukunftsgegenwart leben, oder?
In dem Buch Pharmako-AI führt der Künstler und Google-Consulant K Allado-McDowell einen Dialog mit dem neural net system GPT-3, einem Deep-learning-Textgenerator. Neben den quasseligen esoterischen und techno-biologischen Reflexionen, die GPT-3 von sich gibt, als hätte da jemand die Kontrolle über sein LSD-Microdosing verloren, sagt GPT-3 immer wieder »ich«. Irritierenderweise. Was soll man über einen Satz denken, wenn eine AI sagt: »I only could understand them when I was completely relaxed.«
E-Mail vom 08.02.2021 an mich selbst, Notiz
die einzige art, wie ich mich der ai nähern kann, ist über das sexuelle. die ai wirft solche neuen fragen auf, sie liegen so weit entfernt, dass man sich der ai jetzt nur mit gefühlen mit lust, hunger, verwerfung nähern kann. ai in filmen der gegenwart / prüderie hollywoods
Ich erinnere mich an einen kleinen gelben Hund, den Hilfe-Bot bei Windows XP. Er hatte nie die richtige Antwort auf meine unklaren Fragen. Alles im Umgang mit Computern habe ich mir erspielt. Iteration: Versuch, Scheitern, Versuch, Erfolg, Versuch …
Cypherpunk > Cyberpunk
Am 25.01.2021 wurde ein Artikel des Subreddits r/gadgets auf meine Frontpage gespült: Microsoft Files Patent for Technology That Could Resurrect Dead Loved Ones as Chat Bots. Ich würde mich gerne mit meinem belgischen Großvater unterhalten und fragen, warum er meinen Onkel und meine Großmutter geschlagen hat, aber nie meine Mutter. Oder beinhaltet Microsofts Patent nur Loved Ones?
Ich glaube an Italo Calvinos Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend.
Google DeepMind besiegte 2015 und 2016 zwei der besten lebenden Go-Spieler. Im Gegensatz zu Deep Blue von IBM war AlphaGo eine selbstlernende AI, die 2000 Jahre Wissen und Weisheit über dieses Spiel überwand. Ein chinesischer Forscher nannte dieses Ereignis den Sputnik-Moment für das Land, der massive Investments der chinesischen Regierung in die AI-Forschung anregte. Warum siegt die AI stets in Tätigkeiten, die die Menschen verrückt machen (Go, Schach, Mathematik)? Nirgendwo sonst öffnet sich das Fenster des Wahnsinns so schnell und heftig wie in diesen Disziplinen.
Ich war immer überwältigt von der Tatsache, dass in der Antike, egal ob in Indien, China oder Griechenland, Philosophie fast ausschließlich in der Form des Dialogs gehalten ist. In diesen Dialogen spricht 95 % der eine, und der andere bejaht oder fragt nach. Obwohl, so hält es auch David Graeber fest, heute selbstreflektierendes Bewusstsein als das Menschliche angesehen wird, wurde damals Denken als eine kollektive, politische (oder dyadische) Praxis verstanden – etwas, das per Definition nicht von einer Person allein gemacht werden kann. Das Ziel der Philosophie war, meistens zumindest, sich selbst im Dialog zu kultivieren. Vermittelt sich da nicht auch ein Machtverhältnis? Sokrates erklärt die Welt und Gorgias von Leontinoi sagt nur: Jaja, haha, nun ja.
Ich bin immer überwältigt von der Tatsache, wie lange man sich unterhalten kann, wie lange man zusammen denken kann, konzentriert gemeinsam eine Frage abwägen. Ich bin immer überwältigt von der Tatsache, dass meine Gedanken im Dialog stattfinden. Ich bin immer überwältigt von der Tatsache, wie kurz die Momente des konzentrierten Selbstbewusstseins sind. Sekunden, denke ich. Wie lange konnte Jiddu Krishnamurti das Fenster des Bewusstseins offen halten? Ich bin immer überwältigt von der Tatsache, dass Cannabis die Zeit der Erfahrung des Selbst verlängern kann. Die meiste Zeit operieren wir auf Autopilot.
Oft wird der technische Fortschritt als rasant beschrieben (Moore’sches Gesetz). Mir ging es noch nie so. Heute finden das noch nicht mal mehr meine Eltern. Ich kann mir immer bessere Funktionen imaginieren. Warum wurde bis heute keine Maschine erfunden, die einen sofort in den Schlaf fallen lässt?
Meine Lieblingsdialoge schreibt Ann Beattie. – Ich könnte tagelang nur solche Dialoge schreiben:
Marius Goldhorn sagte: Ja.
Jacob Teich sagte: Und?
Marius Goldhorn sagte: Und?
Jacob Teich sagte: Haha.
Erst wenn ich die Figuren kenne, ergibt das Sinn. Wie könnte das eine AI lernen? Reduktion von Information, Maximierung von Ur-Lauten.
Die Angst vor den Träumen. Die Angst vor der Dunkelheit. Die Angst vor der Helligkeit, der gleißenden Helligkeit. Die Erinnerung im Traum, die behauptet, man sei von da und da gekommen. Der Geruch von fremden, feuchten Mänteln. Ich träume immer noch viel. Meine Träume sind sehr gemischt. Ich träume Dinge, die ich verstehe. Ich träume Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Ich sehe Personen, ich sehe sie in Farbe. In letzter Zeit träume ich immer wieder von einer Stadt, in einer steinigen, belebten Wüste. Die Stadt steht auf einem Hochplateau, von dem ich glaube, dass ich es erklimmen muss. Die Stadt ist eine Gegenwartsstadt mit kommerziellen Anlagen, Stahl-Glas-Architektur, Geschäften, Büros, Cafés, nur ohne Autos. Menschen gehen zu Fuß, über allem liegt ein feiner hellgrauer Sand. Oft sitze ich unten an einem Feuer, und mein Vater und ein Freund meines Vaters kommen, und die beiden alten Männer fragen mich, ob ich die Fahrräder durch ein Drehkreuz an einem Eingang, an einem Checkpoint heben könnte. Dann fahren sie hoch in die Stadt. Manchmal gehe ich durch die sandigen, hügeligen Gassen der Unterstadt, mit den Händen in einem Mantel, und irgendwie bin ich erfahren und ernst und weise, aber nicht unglücklich, auch wenn ich schon lange nicht mehr gelacht habe. Manchmal kommt der Wind, und die Bewohner gehen in ihre Häuser, und ich gehe in eine leerstehende Pizzeria, und die Gabeln verbiegen sich zu Raupen. Manchmal, wenn ich einen Traum notiere, denke ich an die Tatsache, dass hinter den Mauern der Stadt wirklich eine Stadt liegt. Es ist nicht wie in einer VR-Simulation, in der dahinten, die Mauern der Stadt nur eine Kulisse sind. Es gibt diese Stadt in meinem Kopf wirklich. Da ist etwas, auch wenn ich es vielleicht nie betreten werde.
Aus der Occupy-Wall-Street-Zeitung Tidal: »We don’t even know why we are here, we know neither what to expect nor what to demand because we don’t know how the world is really supposed to feel, all we know is that we have this spiritual nausea that we haven’t been able to speak about with anyone since no one has much time to speak about the soul […]. If the phantoms of wall street are disturbed by our presence, so much the better, it is time the unreal be exposed for what it is.«
Giambattista Vico: Wir Menschen können nur das verstehen, was wir selbst gemacht haben. David Graeber: Wir können alles verstehen, außer das, was wir selbst gemacht haben.
Das Problem bleibt: Ist der Gott des Bewusstseins in der Lage, das, was er erschaffen hat, zu erfahren? Ich habe in einem Talk von Bifo gehört: Das Erstaunliche ist, dass die AI in der Lage sein wird, Intelligenz und Bewusstsein zu trennen. AI ist pure instrumentelle Vernunft, ohne Selbstbewusstsein. Wird diese AI also intelligent sein, ohne qualia erfahren zu können? Ist das der Gott, den Descartes postuliert? Der Bruch zwischen Denken und Fühlen.
Ich glaube an einen Gott, der nur erfährt und nichts denkt.
David Graeber: »The ultimate, hidden truth of the world is that it is something that we make, and could just as easily make differently.«
Manche Ideen sind in meinem Kopf. Andere Ideen, die meisten, sind außerhalb meines Kopfes. Darum spüre ich manchmal das Bedürfnis, mir ein Loch in den Kopf zu bohren.
Ich glaube an die Unendlichkeit der Imagination.
Die Werke, die es in den Kanon geschafft haben, aus der Perspektive des Jahres 2058:
Die Texte über die Götter.
Die Texte über die herausragenden Menschen.
Die Texte über die durchschnittlichen Menschen.
Die Texte über den Autor selbst.
Die Texte über den Leser.
Ich stelle mir ein 2058 vor: die Jahre, in denen wir nicht mehr in der Zukunftsgegenwart leben, sondern in einer einfach gewordenen Gegenwart. AIs schreiben deine personalisierte Geschichte im Stil kanonisierter Autorinnen. Diese AIs werden Pseudo-Dostojewski und Pseudo-Le-Guin heißen. Im Update gibt es Pseudo-Woolf.
Was mich im Jahr 2021 beschäftigt: Für meine Träume gibt es keinen Raum, und das ist gut so.
Angesichts einer Pandemie: Es geht gar nicht um die Explosion digitaler Optionen. Es geht darum, Bedingungen zu schaffen, um das Zusammenkommen erfahrbar zu machen.
Angesichts einer Literatur-AI: Geht es nicht darum, der Deep-learning-Maschine neue Texte zu geben, die neue und andere Geschichten erzählen, die eine Perspektive von Kooperation, direkter Demokratie (Anarchie) und Spontaneität bietet? Wie könnte diese Ethik entwickelt werden außer im Gespräch?
Ursula K. Le Guin in Science Fiction and the Future: »As a science-fiction writer I personally prefer to stand still for long periods, like Quechua, and look at what is, in fact, in front of me: the earth; my fellow beings on it; and the stars.«
Eine Vorabveröffentlichung aus Navigationen – Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften (Herbst 2021).