Ich sehe ins Weiß und ins Blau.
Ich bin zufrieden mit dem, was ich sehe.
Ich bin 12.
Es ist 2004.
Die Sonne geht auf.
Sie ist rot.
Der Amazonas brennt.
Ich bin ein 12-jähriger Nero.
Echt.
Wir müssen die Geister wieder einsetzen.
Ich bin im Internet Explorer.
Vor der Schule. In meinem Zimmer. An meinem PC. Aus dem Discounter.
Intel Pentium 4, 2,60 GHz, 512 MB DDR-RAM, ATI-Radeon 9600TX, 160GB HDD.
Ich bin alleine.
Ich bin frei.
Ich will lernen.
Ich gehe zum Frühstücksfernseher: Anschlag in Bagdad.
Ich weiß nicht genau, wo ich nach dem suchen soll, was mich interessiert. Ich weiß nicht, was mich interessiert. Was interessiert mich?
Ich versuche, nicht an der Neurodermitis auf meinen Oberschenkeln zu kratzen. Ich versuche, nicht an die Heilpraktikerin zu denken.
StarCraft.
Welcome to Mar Sara.
In StarCraft bin ich ein Gott.
Das Wesen des Menschen ist die organisierte Anstrengung.
In Latein bin ich ein Gott.
Ich versuche, nicht an meine Mitschülerinnen zu denken. Bei bestimmten Gedanken wird mir schlecht. Ich muss in die Schule. Der Lehrer projiziert ein Bild an die Wand: Ein Ureinwohner paddelt durch ein Feuermeer.
Woran erkennt man Ureinwohner?
An ihren Augen.
Daran, dass sie schon vor 10 000 Jahren auf dem Mars waren.
Ohne Raketen.
Allein mit der Kraft des Geistes.
Ich bin im Internet Explorer. Nach der Schule.
Ich setze mir meine Kopfhörer mit Mikrofon auf.
Nirvana.
Ich logge mich in TeamSpeak ein.
Hallo, alles, gleichzeitig, jede, überall.
Ich spreche mit fremden Menschen aus ganz Rheinland-Pfalz.
Sie sind mein Clan.
Ich bin der Jüngste.
Ich spiele Zerg.
Ich heiße Ge1st.
Die Zerg-DNA infiziert alles. Was mit ihr in Berührung kommt, repliziert sie zu sich selbst.
Ihre Landnahme ist die Verseuchung.
Die Landnahme der Kolonisatoren ist die Entseuchung.
So geht die Landnahme der Kolonisatoren: Geister-Vertreibung, Vermessung mit einem Auge, Kartografie, Nature Writing, Landschaftsgemälde, öffentliche Hinrichtung, Panzer, Streubomben.
Während ich mit allen, gleichzeitig, jedem, überall aus Rheinland-Pfalz spreche, bin ich im Internet Explorer.
Es ist 2004.
Ich bin 12.
Meine Augen tasten den CRT ab. Seit vielen, vielen Stunden.
Simone Weil hat sich zu Tode gehungert. Oder es war die Tuberkulose oder die Solidarität mit den Französinnen in Frankreich im Zweiten Weltkrieg. Oder die Solidarität mit den Opfern aller Kriege. Der Toten aller Kriege aller Zeiten. Hallo, alles, gleichzeitig, jede, überall.
Es ist ein Samstag. Ich schreibe mit Anh Thư auf ICQ.
Anh Thư heißt auf ICQ anht2.
anht2 schreibt mir: ICQ steht für »I seek you«
Ich schreibe: lol.
lol ist mein Schild und mein Schwert.
Ich bin 12.
Es ist 2004.
Ich sitze auf einem Stromkasten. Unter mir steht mein Vater, und ich überblicke die Menschenmassen. Ich denke an StarCraft. Ich denke daran, wie ich die Menschen organisieren würde. Ich sammle sie in meinem Kopf mit dem Mauszeiger ein.
Zehn schicke ich zur Polizei.
Zehn schicke ich auf die Treppen.
Ich klicke mit der rechten Maustaste. Ich drücke mit dem Mittelfinger auf den Kopf meines Vaters. Es ist der Kopf meines Vaters.
Ich streichle die neu nachwachsenden Haare meines Vaters.
Er sagt, seine Haare wachsen so langsam nach.
Mein Vater hatte immer lange Haare und einen Bart.
Er hat den Krebs besiegt.
Gewinnen ist alles.
Wir sind gegen die Besetzung des Iraks. Wir sind hier seit über einem Jahr. Wir waren gegen den Krieg. Die USA ignorieren die Demonstrationen in Rheinland-Pfalz und dem Rest der Welt. Sie führen alles genau so aus wie geplant.
Ich bin 12 Jahre alt, und ich weiß, dass Colin Powell lügt.
Ich sitze mit meinem Vater vor dem Fernseher. Wir sehen in den Nachrichten Demonstrationen auf der ganzen Welt gegen den Krieg.
Wir sehen die amerikanischen Hexenquäler von Abu Ghraib.
Woran erkennt man die Hexenquäler von Abu Ghraib? Daran, dass vor ihnen ein Mensch kauert wie ein Hund.
Die Amerikaner haben Deutschland befreit, sagt mein Vater. Aber sie sind Verbrecher, sagt mein Vater. Die Amerikaner sind Verbrecher. Anschlag in Bagdad.
Die Zerstörung Bagdads lässt sich nur mit der durch die Mongolen 1258 vergleichen, sagt eine Historikerin. Ich suche im Internet Explorer »Mongolen Bagdad«. Als die Mongolen Bagdad überfielen, gab es so viele Bibliotheken in der Stadt, dass man nach den Plünderungen den Tigris auf Büchern überqueren konnte.
Ich lese die Bücher zu Ende. Wenn du ein Buch nicht zu Ende liest, dann kommt die Autorin und sucht dich heim. Wirklich! Sie erzählt dir alle möglichen Enden. Aber nie das, das im Buch steht.
Woran erkennt man die Wirklichkeit? Sie ist das, was nicht im Buch steht.
Es ist 2004.
Ich trainiere mein Gehirn am Computer wie die jungen Römer in den Thermen ihre Muskeln.
Sie haben einen Krieg zu gewinnen.
Ich habe einen Krieg zu gewinnen.
Ich spiele StarCraft.
Zerg.
In TeamSpeak unterhalten sie sich über rotten.com.
Das hört sich extrem verstörend an.
Ich bin auf rotten.com.
Rotten.com ist rot-schwarz-braun.
Ein Fallschirmspringer püriert von den Rotorblättern eines Helikopters.
Ich gehe zum Fußball. Ich erzähle dem Mittelfeld von rotten.com. Irgendjemandem muss ich es erzählen. Sie versprechen mir, sich rotten.com anzuschauen.
Woran erkennt man jemanden, wenn er etwas verspricht? An der Angst in den Augen.
Ich lese den Wikipedia-Artikel von George W. Bush. Ich frage mich, ob ich George W. Bush umbringen soll. Ich sollte George W. Bush umbringen. Ich liege im Bett und stelle mir vor, wie ich George W. Bush umbringe. Ich laufe aus dem Publikum auf ihn zu und schieße George W. Bush in den Kopf.
Beim Abendessen sprechen meine Eltern über die Terroranschläge in Madrid. Morgen ist Schule. In Geschichte haben wir über die Terroranschläge von Madrid gesprochen. In Latein haben wir über den Brand der Bibliothek von Alexandria gesprochen. Im Internet brennt die Bibliothek von Alexandria jeden Tag.
Simone Weil hasst Rom.
Simone Weil schreibt: »Rom: das atheistische, materialistische Große Tier, das nur sich selbst anbetet.«
Und: »Von allen Völkern des Altertums war vielleicht ein einziges ohne jede Mystik: Rom.«
Simone Weil sagt: Rom baut auf dem Raub der griechischen Skulpturen auf.
Auf der Kopie der geraubten Skulpturen.
Rom selbst wurde zerschlagen, neu vermessen, verteilt und besetzt. Wegen der Idolatrie der sozialen Realität. Das große Tier: die Vergöttlichung der sozialen Realität. Die Vergötterung des eigenen gesellschaftlichen Entwurfs.
Ich rippe PC-Games. Ich lade Musik herunter. Ich bin 12. Ich brenne CDs und verkaufe sie an die Kinder in der Nachbarschaft.
Ich ändere Wikipedia-Artikel. Deine Änderungen wurden nicht übernommen.
Hausaufgaben: Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.
Ich sitze in der Schule. Die Lehrerin hasst mich. Ich weiß nicht, warum.
Von allen Zeiten der Menschheit war vielleicht eines ohne jede Mystik: 2004.
Es ist 2004.
Die meisten Mitschülerinnen hassen mich. Die ordentlichen Mitschülerinnen reisen mit Bussen aus den Einfamilienhaus-Siedlungen an. Ihre Eltern sagen, sie seien hochbegabt. Sie kommen mir nicht hochbegabt vor. Sie sollen Pilotinnen oder Informatikerinnen werden. Sie lernen Mandarin: Hallo, alles, gleichzeitig, jede, überall. Die Sprache von dort ist Mandarin.
Woran erkennt man die Schülerinnen, die Mandarin sprechen können?
An den blonden Haaren.
An der Hundeleine in der Hand.
Ich komme aus der Altstadt. Ist das ein Problem?
Meine Mutter hat noch nie gesagt: Du bist hochbegabt.
Ich kann Latein.
Niemand in meiner Familie kann ein Wort Latein.
Ich bin 12 Jahre alt.
Anh Thư kommt aus der Altstadt.
Anh Thư kann Latein.
Niemand in seiner Familie kann ein Wort Latein.
Anna-Kay kommt aus der Altstadt. Anna-Kay ist auch bei ICQ.
Anna-Kay schreibt: Kannst du mir die Hausaufgaben geben?
Ich tippe in den Chat: »Außerdem glaube ich, dass Karthago vernichtet werden muss.«
Ich glaube nicht, dass Karthago vernichtet werden muss.
Ich glaube, George W. Bush und die Schule müssen vernichtet werden.
Meine Mutter schenkt mir ein 3 x 3 Meter großes Che-Guevara-Poster. Che-Guevara starrt auf mein Hochbett.
Mein Vater schreit Johannes Paul II. im Fernseher an.
Der Papst sieht nicht gut aus. Er sieht aus wie ein Baby. Wo ist der Gegenpapst?
Woran erkennt man den Gegenpapst? An seinen leuchtenden Augen.
Ich bin auf Wikipedia. Ich lese alles über das antike Griechenland. Ich lese alles über Waffen und Waffensysteme. Ich lese alles über Sex.
Es ist 2004. Ich fahre mit meiner Mutter und meiner Oma nach Belgien, nach Knokke-Heist. Ich sitze in einem Strandkorb und lese. Ich esse jeden Tag Toast mit Hagelslag. Ich löse einen weitverzweigten Fall. Ich kombiniere. Ich finde heraus, wer die Illuminaten sind. Woran erkennt man Illuminaten? Daran, dass sie den Zankapfel werfen. Ich erzähle niemandem davon.
Simone Weil ist 12 Jahre alt. Sie fährt mit ihren Eltern nach Belgien, nach Saint-Idesbald. Sie verschwindet in den Dünen und kämpft mit einem Schwert aus Eisen und einem Helm aus Pappe gegen den Riesen Rodion Raskolnikow. Rodion Raskolnikow hat zwei Köpfe und ein Beil. Sein Leib ist verfault. Um seinen Hals flattern Mumienbinden. Simone Weil trifft ihn in den Magen. Der Riese Rodion Raskolnikow stirbt. Simone Weil erzählt es niemandem. Aber es gibt ein Foto davon.
Ich sitze am Esstisch mit meinem Vater. Ich esse Cheddar-Spiegelei-Vollkornbrot. Im Fernsehen laufen Übertragungen von der Oberfläche des Mars. Unser roter Planet.
Mein Vater erzählt die Biografie seiner Jugendfreundin Ingrid Schubert. Er nennt sie bei ihrem Koblenzer Spitznamen: Pudding.
Pudding zieht mit 19 zum Studieren nach Berlin. Pudding befreit im Mai 1970 Andreas Baader aus einer Bibliothek. Pudding wird im Juni 1970 in Jordanien von der Fatah militärisch ausgebildet. Pudding lernt Schießen, Nahkampf, Handgranatenwurf, Sprengstoffherstellung. Das ist ein Meilenstein, sagt mein Vater: Die Gruppe einer anderen Nation bildet eine andere Gruppe mit völlig anderen Zielen aus. Pudding überfällt im August und September 1970 drei Banken. Pudding wird im Oktober 1970 in Charlottenburg verhaftet und sieben Jahre später, nach sieben Jahren im Pendel zwischen Hungerstreik und Beendigung des Hungerstreiks, stirbt Ingrid Schubert durch Erhängen in ihrer Zelle.
Es ist 2004. Amerikanische Panzer fahren auf der Prozessionsstraße von Babylon.
Was ist das alles krank, sagt mein Vater.
Die Ramstein Air Base ist in Rheinland-Pfalz.
Es sind 4543 km mit einem Militär-Flugzeug nach Bagdad.
Es sind 159 km über die A61 nach Ramstein.
Von der Ramstein Air Base werden die Drohnen im Irak gesteuert.
Von einer Militärdrohne aus sehen die Menschen nicht aus wie Menschen.
Aus dem Flugzeug sieht man immer nur die menschenleeren Konstruktionen.
Man bräuchte eine künstliche Intelligenz, die zwischen 12-jährigen und Terroristen und 12-jährigen Terroristen unterscheidet.
Es ist 2004. Es ist zwei Tage nach Weihnachten. Ich sitze mit meinen Eltern am Esstisch. Wir essen Krabben. Wir schauen Fernsehen. Wir schauen uns die Bilder von den Touristen in Thailand an, die in ihren 4-Sterne-Resorts ertrinken. Das Meer zieht sich zurück. Eine Welle kommt. Und zerstört alles.
Woran erkennt man die totale Zerstörung?
Replay: Das Meer zieht sich zurück. Die Welle kommt, und die Menschen rennen und schreien. Wir sehen Menschen von Hilfsorganisationen in weißer Kleidung, mit Atemschutzmasken im hellbraunen Schlamm. Die Schwester meines Vaters ruft an und weint. Warum weint sie nicht um die Toten im Irak?
Die Macht des Meeres. Die Macht des blauen Meeres.
Wir waren gegen den Krieg.
Waren wir für Saddam Hussein?
Ich bin der Internet Explorer.
Ich lese im Internet, Saddam Hussein verbringe seine Zeit in seiner Zelle damit, Gedichte zu schreiben, im Koran zu lesen, Plätzchen und Muffins zu essen. Im Gefängnishof hat er Büsche und Sträucher gepflanzt.
Ich lese, er habe einen Kreis aus weißen Steinen um einen kleinen Pflaumenbaum gelegt. Er wartet darauf, gehängt zu werden.
Nächstes Jahr ist 2005.
Nächstes Jahr bekomme ich Alt-Griechisch.
Es ist 2004.
Hallo Tote, alle, gleichzeitig, jede, überall.
Hallo immense Möglichkeiten der Begegnung und der Solidarität.
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