Der Roman kann so gut wie alles sein. Der Roman kann ein Adventskalender sein. Er zeigt ein Bild, und in diesem Bild öffnen sich an unerwarteten, auch unvorhergesehenen Stellen Türen – wenn das Ausgangsbild eine Winterlandschaft ist mit Fichten, Kindern auf Schlitten und Rehen, öffnet sich beispielsweise ein Türchen im Schnee und mag etwas zeigen, was auch »realerweise« dahinter verborgen sein könnte – ein kleines Tier in der Erde eingegraben, in seinem Bau, im Winterschlaf. Oder es zeigen sich die irrealen Dinge, Weihnachtswünsche, Sterne, Spielzeuge, Engel hinter sich öffnenden Wolken – Symbole, die zu wünschen vorgegeben waren und die auf ganz andere Wünsche verwiesen, den nach Schutz, nach Geborgenheit, nach Frieden, nach Schönheit.
Es gibt Kalender, die sich das Realitätskonzept zum Prinzip gemacht haben und die die vordergründig verdeckten Bilder dort zeigen, wo sie hingehören: die Katze hinter der Dachbodentür des fränkischen Bürgerhauses oder die Maus hinter der Tür der Speisekammer, den Strohstern, selbst gebastelt, im Fenster, den Nikolaus draußen hinter den Tannen im Anmarsch. Dies ist hochbefriedigend und oft liebevoll ausgeführt.
Spannender fand ich stets die Kalender, die sich des eher surrealen, eher chaotischen Prinzips bedienen, die willkürlich ihre Türchen verteilen und hinter, im oder beim Schlitten, hinter, in oder bei der Tanne etwas ganz anderes aufscheinen lassen. Hingestreute Zahlen, die den Entdeckungen eine Reihenfolge geben, Eingänge, die unvermutet sind, weil sie die Grenzen der Dinge mißachten, eine Kufe des Schlittens öffnen, zusammen mit einem Zweig Tanne und einem Stück Schnee. Was dann folgt, hat keinen praktischen Bezug mehr zum Vordergrundbild, es sind fragwürdige Objekte, Ikonen, Ideen.
Diese Schichten, Schichtungen lassen sich vermehren – das nennt man dann »in die Tiefe gehen«, in die Tiefe des Raumes, den der Roman bietet, die selbstverständlich auch eine zeitliche ist. Reihung, vielmehr Schachtelung: mit jedem Türdurchgang eine andere Zeitschachtel betreten. Warum ist das nicht postmodern? Weil es nicht mit dem Medium spielt, sondern das Medium nutzt. Weil es beim Adventskalender darauf ankommt, die Ebenen so zu planen, daß da, wo man aufmacht, auch etwas »ist«. Die Türen sind numeriert, das epische Nacheinander dadurch gewährleistet, aber durch das Zusammenspiel von Vordergrund und Durchblicken kann die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen anvisiert werden. Es geht darum, diesen Zeitverlauf der Zahlen, die verstreichende Zeit zu einer verdichteten, besonderen zu machen.