Schönheit ist keine Kategorie mehr, die auf einen Roman der Gegenwart Anwendung fände. Man bemerkt und lobt eine gewisse Kunstfertigkeit, einen lakonischen Ton oder inhaltliche Relevanz, aber die Schönheit steht generell unter Kitschverdacht. Einen Roman etwa »einfach schön« zu nennen, gehört zum Schlimmsten, was man über ihn sagen kann.
Die vermeintliche Nähe des Schönen zum Kitschigen, zum Unreflektierten und Naiven, zur Realitätsfremdheit und Vormoderne ist ein hartnäckiges Vorurteil. Es hat damit zu tun, daß die Werbeästhetik Erscheinungsformen von Harmonie, Glätte und Idylle auf unstatthafte Weise für sich nutzt, es hat aber auch damit zu tun, daß der Begriff des Schönen eigenartig verflacht ist und selten anderes bezeichnet als zum Klischee erstarrte Oberflächenreize. Was ist schön? Blumen, Automobile, Urlaubsorte, manche Frauen? Romane über Blumen, Automobile, Urlaubsorte, bestimmte Frauen?
Das Empfinden von Schönheit ist eines der subjektivsten Gefühle überhaupt. Schönheit ist nicht gegenstandsgebunden, Kriterien wie harmonische Proportion haben ihre Ursache in sozialem Training. Schönheitskriterien sind Wahrnehmungsgewohnheiten, deshalb ist das Objekt beliebig.
Dennoch gelten Dinge als besonders schön, die nur für kurze Zeit erscheinen: eine blühende Rose, Parfüm, Mädchenkörper, eine gewisse Beleuchtung, kurz, etwas im Kern Flüchtiges und als solches Bewußtes.
Im Prädikat der Schönheit ist die Vergänglichkeit des Dinges mit eingeschlossen. Deshalb schmerzt die Schönheit so sehr, die Dinge erscheinen, das betrachtende Subjekt erscheint, und beide verschwinden wieder.
Der Moment des Schönen liegt darin, das Subjekt mit seinem Tod zu konfrontieren: bei der Begegnung mit dem sogenannten »schönen Objekt« verliert das Ich die Fassung, es verliert die Kritikfähigkeit, die Distanz, es ist in der Lage zu einer relativ ungefilterten Wahrnehmung, es erkennt für Momente Sein und Nichtsein. Interesseloses Wohlgefallen hat damit zu tun, sich gegen diese Erkenntnis nicht zu sperren, sondern sie hinzunehmen, nicht nur klaglos, sondern freudig, emphatisch, berauscht.
Daß wir sterblich sind, ist ein Skandal und ein Ärgernis, daß wir leben, ist ebenfalls ein Skandal und ein Rätsel, aber wenn sich ein Roman, der schöne Roman, damit befaßt, geht es nicht um Lust und Unlust, nicht um Gefälligkeit oder massenwirksamen Schrecken, sondern um die Kunst, diese stets verdrängten Tatsachen in die Gegenwart des Lesers zu bringen. Dazu kann Leichtigkeit dienen, Selbstvergessenheit, scheinbare Absichtslosigkeit des Autors, eine Wahrnehmungsgenauigkeit, die sich nicht täuschen läßt von Moden.
Der schöne Roman ist ein Mordwerkzeug für das satte, das zweifelsfrei an sich glaubende Ich. Der schöne Roman zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Aber er läßt dieses Ich nicht fallen, sondern schweben.