Als ich im Winter mit einem Stipendium des Deutschen Literaturfonds in New York war, habe ich George Saunders entdeckt. In den Zeitungen wurde er als eines der großen Genies der amerikanischen Literatur gerühmt; in Deutschland hat kaum jemand von ihm gehört, vielleicht, weil er keine Romane, sondern Erzählungen schreibt. Das erste Buch habe ich aufgrund des Covers gekauft: ein ausgestopfter Hirsch aus dem Naturkundemuseum, unterlegt mit einem Prägemuster aus kitschigen Glitzersternchen. Ein unmögliches Cover also, und genauso sind die Geschichten, schrill, kontrastreich, cool und herzergreifend.
Amerika als Themenpark: Die Protagonisten von Saunders gehen in der Regel erniedrigenden Tätigkeiten nach. Sie verkleiden sich als frühe Siedler oder Urzeitmenschen und mimen für die Touristen Historie, sie vertreiben unerträgliche Produkte wie Sprachfähigkeitsvortäuschgeräte für sprachlose Säuglinge, oder sie sind dazu verdammt, zu Werbezwecken immer wieder die Szene ihres eigenen gewaltsamen Todes zu vollziehen. Die Erzählungen erreichen stets den Punkt, an dem das Groteske überhandnimmt und das Ganze kein Spiel mehr ist. Die Zwänge des turbokapitalistischen Systems fordern Menschenopfer. Trotzdem begehrt niemand auf, denn die Figuren handeln, und hier kommt die menschliche Würde ins Spiel, aus Liebe: Meist haben sie jemanden, um den sie sich sorgen, den sie versorgen müssen, der ihrer Unterstützung bedarf, und dafür nehmen sie alles, ja wirklich alles in Kauf. Selten zeigen sich die Probleme unserer Gesellschaft so drastisch, so absurd und so scheinbar unausweichlich wie bei Saunders, und doch sind diese Erzählungen vor allem eins: eine Feier der Menschlichkeit, eine Verbeugung vor der Größe der menschlichen Seele.
Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien am 05.10.2013 in der Stuttgarter Zeitung