Keine dankbare Aufgabe, etwas über den Open Mike zu schreiben, wenn man Mitglied der Jury ist. Die Jury, selbstverständlich, schweigt wie ein Grab über alles, was sich im Juryraum abspielt, schweigt eisern über Gespräche und sonstige Vorkommnisse außerhalb des Juryraums und äußert sich öffentlich überhaupt nur qua Amt, doch niemals, unter keinen Umständen, persönlich. Deshalb kann ich hier nur einige Nebenbemerkungen fallen lassen, die jeder andere Zeuge des Geschehens auch machen könnte.
Performance: Was mich am meisten erstaunt, ist die Professionalität, mit der die Teilnehmer durch die Bank auftreten. Sie tragen ihre Texte außerordentlich gut vor, man merkt ihnen nicht die geringste Nervosität an, sie wissen, was sie wollen, und sie ziehen das durch. Auf Nachfrage geben sie ohne Zögern darüber Auskunft, was Literatur ist, warum sie schreiben, warum sie gerade so schreiben und wie es ihnen damit geht. Sie wissen alles. Jede Nachdenklichkeit, jede Unsicherheit ist aus diesem Wettbewerb verschwunden. Sicher, es ist ein Wettbewerb und kein Schonraum, aber einen Schonraum brauchen diese Nachwuchstalente auch gar nicht, sie zweifeln nicht an sich. Sie haben gelernt, daß sie in einer Gesellschaft, die vom Anspruch der Medien geprägt ist, keine Schwächen zeigen dürfen, und das gelingt ihnen unheimlich gut. Die Literatur könnte einer der letzten Räume sein, in dem dies noch möglich wäre: als Autor nicht perfekt wirken zu müssen, weil es nicht um die Person, sondern um den Text geht. Aber der Markt hat uns eingeholt.
Themen: Viele der Texte befassen sich mit der Realität der weniger privilegierten Schichten. Vorherrschend ist die Zeit der Pubertät oder der verlängerten Pubertät, und diese wird in einem Milieu durchlitten, dessen Probleme deutlich, ja oft provokant überdeutlich aus einem Mangel an Bildung entstehen. Es sind sozialkritische Texte, die zeigen, wie zwischenmenschliche Verwerfungen aus der Unfähigkeit rühren, Gefühle angemessen auszudrücken oder die eigenen Rechte und Bedürfnisse zu artikulieren, und wie sich daraus fast zwangsläufig Schicksale ergeben, die eben nicht zufällig sind, sondern systemimmanent. Diese Texte besitzen den Reiz der Unmittelbarkeit, der Anschaulichkeit und Nähe zu den Dingen, sie sind sinnlich und klar, aber sie machen es sich manchmal in ihrer Beweisführung zu einfach.
Geschlechtergerechtigkeit: Von den 22 Teilnehmern sind 13 weiblich, also mehr als die Hälfte. Man sollte demnach die ewigen Klagen über den männlich dominierten Literaturbetrieb allmählich als gegenstandslos betrachten, oder? Ich habe die Fragebögen gelesen, die den Kandidaten vorgelegt wurden. Auf die Frage nach Tradition, Vorbildern, Lektüre ergeben die Antworten mit einer erschreckend geringen Abweichung genau das Bild, das ich immer für ein Klischee gehalten habe: Frauen lesen alles, Männer hingegen ausschließlich Bücher von Männern. Damit bleibt, ganz egal, wer hier gewinnt, die Deutungshoheit da, wo sie immer war: Bücher von Frauen werden vielleicht gekauft, aber nur Bücher von Männern gelten als relevant.