In der Kindheit, im Übergang von der Lallperiode ins Semantische, ist man umgeben von Klängen, Tönen, Gesängen, die sich nicht erschließen und einem dennoch ganz zugehören. Ich weiß noch, wie ich meine Mutter einmal um Weihnachten fragte, wer eigentlich diese fröhliche und selige »Odu« sei. Ein anderes Klangspiel, das kaum hinterfragt wurde, war das Lied vom »Hellije Zinter Mätes«: »D’r hellije Zinter Mätes, dat wor ne jode Mann, / dä jof de Kinder Kääzcher un stoch se selver an. / Butz, butz wieder butz, dat wor ne jode Mann.« – Was man alles so singt im Unverstand, weil singen einfach zuuuu schön ist. Und weil die Heiligen sowieso unverstanden sind. Man denke nur an die 11 Tausend Jungfrauen. 11 Tausend sollen es gewesen sein. Wer die wohl alle gezählt hat? Jedenfalls waren diese Märtyrerinnen die ersten 11 Jahre meines Lebens meine heiligsten Heiligen. Worum es dabei ging, wusste ich nicht so genau, aber sie hatten es bis ins Wappen unserer Stadt gebracht und also stand fest: So heilig wollte ich auch mal werden – oder Prinz Charles heiraten. Aber zurück zum heiligen Sankt Martin. Jedes Kind lernt in Köln im Kindergarten oder in der Schule die Legende des Bischofs Martin von Tours, dem Nothelfer und Wundertäter, der im Dunkeln am Wegrand einen Bettler kauern sieht, vom Rosse steigt, seinen Mantel teilt und dem armen Mann die Hälfte davon reicht, weshalb ihm nachts im Traum zum Dank Jesus erschienen sein soll. Ein guter Mann. Doch warum basteln Kinder wochenlang Laternen, laufen an einem festgelegten Tag durch die nasskalten Straßen, klingeln an Haus- und Wohnungstüren und »kötten« singend um Süßigkeiten, wie das heißt? Apropos »kötte«: Im Lexikon findet sich dazu schnell das nötige Wissen, denn außer bei uns in Köln weiß ja niemand, dass das Wort aus dem Lateinischen kommt, Colonia eben, aus dem Umfeld von »quaeso« oder »quaestum« (gewinnsuchend, dringlich bitten), das angeblich auch dem französischen Verb »quêter« (sammeln, erbitten) zugrunde liegt. »Kötte jon« ist also eigentlich schlicht und ergreifend: betteln gehen, eine Tätigkeit armer Leute oder eine von Schnorrern. Das Lexikon kennt auch noch den »Kötthungk« (den Bettelhund) und die »Köttmöhn« – auszusprechen mit langem, offenem ö –, eine alte Frau, die bettelt. So richtig freundlich ist das Wort »kötte« nicht.
Aber in der Kindheit ist ja alles anders. Also bastelten wir, lernten wir die Lieder und gingen dann an einem grauen Regentagsabend kurz nach Allerheiligen »kötten«. Dä hellije Zinter Mätes – übersetzt: »Der heilige Sankt Martin, das war ein guter Mann, er gab den Kindern Kerzen und steckte sie selbst an.« Hm. Warum, wenn er doch in der Geschichte den Mantel teilt, gibt er den Kindern im Lied Kerzen? Und warum zündet er sie auch noch selbst an?
Auffällig ist zuallererst, dass der heilige Sankt Martin doppelt gemoppelt daherkommt. Wie weißer Schimmel. Heilig und sankt zugleich. Sicher damit es ihm nicht zu kalt wird, wenn er eine Schicht seines Heiligkeitsmantels an den Kötthungk abgibt. Oder haben Sie eine andere Idee? Im Übrigen: Nur die drei Zeilen der Strophen sind auf Kölsch, der Refrain ist in geheimnislosem Hochdeutsch abgefasst und verspricht den Wohnungstüröffnern langes Leben, wenn sie den Kindern mit den leuchtenden Laternen und dem frohgemuten Singsang nur ordentlich Süßes austeilen. Das tun sie auch meist. Nur die moralinsauren Gutmenschinnen im Dauerwellenoutfit, die es damals genauso gab wie heute, schenkten uns statt Kamelle nur Äpfel oder Mandarinen.
Das nahmen wir hin. Aber können Sie sich vorstellen, wie man dasteht, wenn plötzlich alles schweigt, weil das Lied zu Ende ist und niemand einem die Tür geöffnet hat? Man tippelt von einem Bein aufs andere, und plötzlich ist die Laterne viel zu groß und schwer. Und weil die Kerze auf keinen Fall ausgehen darf, hält man sich immer ein bisschen steif, und weil die Laterne auch nicht abfackeln darf, hält man sich noch etwas steifer. »Lass uns nicht so lange, lange steh’n, denn wir müssen weitergeh’n, weitergeh’n«, sangen wir. Meist wurden wir erhört, aber wenn wir nicht erhört wurden, standen wir eine Weile doof rum und zogen bedröppelt von dannen, zur nächsten Wohnungstür, wo wir erneut unser Dähillje schmetterten. Im nächsten Jahr gingen wir dann nicht mehr zu den verschlossenen Türen, denn man meidet die Orte seiner Niederlagen gewöhnlich so lange, bis man sich doppelt gemoppelt hat, bis man etwa einen Spruch in petto hat, mit dem man in jedem Fall als Siegerin hervorgeht. »Dat Huus dat steht op Stippe, dä Deuvel sall et wippe.«
Dass der heilige Martin wie alle Heiligen nicht ganz koscher war, erfuhren wir Kinder natürlich nicht. Geschenkt: Er muss eine charismatische Figur gewesen sein. Einer, der anderen offensichtlich Kerzen aufsteckte. Dass er heidnische Kultstätten anzündete und zerstörte, um christliche zu bauen, würde man ihm heute sehr übel anrechnen. Aber Mantelteilen ist ja immer richtig. Das deckt vielleicht so manche Untat zu. Und der 11. November, sein Todestag, hat es sowieso verdient, dass man ihn ehrt. Vielleicht überhaupt sind die Laternen ja die Überreste der Fackeln, mit denen die Leute im Dunkeln in einer langen Prozession einst an einem 11. November diesen Martin zu Grabe trugen. Das wäre doch immerhin eine Erklärung; es muss ja nicht immer alles stimmen.
Apropos stimmen: Jahrzehntelang habe ich geglaubt, es gäbe keinen Unterschied zwischen Blutwurst und Flönz, und erst meine Recherchen zu dem Wort »Kummelejonskäz« haben mich ganz zufällig eines anderen belehrt.
»Dä Ungerschied zwesche Flönz un Blotwoosch kammer allt richtich föhle, wammer se käuf: Die Flönz es wabbelich wie ene Pudding un die Blotwoosch es staatsstief wie en Kummelejonskäz. Un vill mieh schwatz wie rut. Un wammer der Woosch dat Fell aftrick un se en de Pann häut för se zo brode, dann weed die Flönz ene unappetitlije Matsch un die Blotwoosch hält de Fijur.«
Schon beim Kauf unterscheiden sie sich also, weiß die Quelle. Die Flönz ist wabbelig und die Blutwurst kommunionskerzensteif. Und schwärzer als rot. Und in der Pfanne, wenn der äußere Mantel weg ist, zerfließt die Flönz, während die Blutwurst, die gekocht wird, ihre Figur hält. Wahrscheinlich hat sie sich heimlich doppelt gemoppelt. Wohl unsichtbar. So weit alles klar. Und doch: Nichts ist klar. Wie, zum Beispiel, kommt in diese Beschreibung der Staat hinein? »Die Blutwurst ist staatssteif wie eine Kommunionskerze«, steht da wörtlich übersetzt. Eine Wurst mit einer Kommunionskerze zu vergleichen, das mag angehen. Wir sind ja in Köln. Aber »staatssteif«: Was kennzeichnet Würste, dass sie staatssteif sind? Wo kommen sie her? Aus Preußen? Und wenn ja: Mögen sie Karneval? Am 11. November, dem Tag, an dem im Jahr 397 der heilige Martin beerdigt wurde und an dem alle Martins dieser Welt Namenstag haben, so sie denn wollen, wird nämlich auch der Karneval eingeläutet. Das hat sicher nichts miteinander zu tun, aber so ist das mit den Zufällen. Sie werden nicht geplant, nicht fremdgesteuert, sondern sie fallen zusammen. Ganz von allein. Meist ist das ein Glück, weil gerade im Nichtgesteuerten der Moment der Freiheit besonders laut lauert. Zufälle lauern ja überall zwischen Himmel und Erde. So ist das, und ein solcher Zufallstag ist der 11. November. Im Jahr 1493 soll Christoph Kolumbus just an einem 11. November in den Antillen die Martinsinsel entdeckt haben, liest man bei Wikipedia, aber es war wohl umgekehrt: Die Insel wurde entdeckt, und weil es am Namenstage des heiligen Sankt Martin war, taufte Christophorus die Insel nach dem Patron. Vorher hatte sie sicher einen anderen Namen, einen einheimischen, den hat Kolumbus wohl nicht richtig verstanden.
Aber zurück zum Zufall: Dass die 11 eine Narrenzahl und der 11. November ein Narrentag ist und Narren, das behauptet jedenfalls der Dichter Eugene Ostashevsky, zumindest in Lallverwandtschaft zum persischen »anar«, den Orangen, stehen – schließlich klingt »anar« tatsächlich wie »ein Narr« –, könnte seinen Ursprung in der kleinen Fastenzeit haben, die einst 40 Tage vor Weihnachten begann. Kommt jedenfalls fast hin. Wie dem auch sei: Die Heiligen und die Narren haben es in sich. Wenn man bedenkt, dass der Staat sich an diesem Tag kein bisschen steif und autoritär gibt, sondern sogar seine Rathausschlüssel an die Narren überreicht. Komischerweise, wie kann es anders sein, an einen 11errat – wahrscheinlich eine preußische oder napoleonische Erfindung, um den Anarchismus des Karnevals ein wenig hoheitlich zu bahnen. 11 jedenfalls, das ist sicher, ist eine Narrenzahl. Vielleicht auch eine heilige Zahl, doch wer interessiert sich heute noch für Heilige. Wer lebte heute gerne in der Nachfolge des heiligen Martins, der einst angeblich in Pannonien geboren wurde, wo damals die Römer herrschten und die Illyrer siedelten und wo die Jugend damals, wenn sie konnte, früh das Weite suchte. Wahrscheinlich auch vor der Christenverfolgung der römischen Besatzer. Was weiß man schon noch – geblieben sind Klänge, Töne, Gesänge, die schönsten Überbleibsel aus der Lallzeit eben.