Kürzlich stieß ich auf den Engel Hahaiah, den 12. Engel der Kabbala, Hahaiah muss auf Hebräisch so viel wie »Gott der Zuflucht« bedeuten. Weil man ja immer auf etwas stößt, was man nicht sucht, wurde ich aus heiterem Himmel auf die Frage gestoßen, ob bei dem Entstehen des deutschen Wortes »Heia«, wie es in »zur Heia gehen« verwendet wird, der Engel, oder genauer: seine sprachliche Erscheinung, mit im Spiel gewesen ist. Er hätte über das Jiddische problemlos einwandern können.
Sprache ist aus Wanderbewegungen und Kontaminationen gemacht. Sie kann Jahrhunderte überspringen, Grenzen durchstechen, uns neue Räume öffnen. Davon kann der Schriftsteller und diesjährige Büchner-Preisträger Marcel Beyer viel erzählen. Seine jüngsten Essays, die im Frühjahr als Band 007 unter dem Titel Sie nannten es Sprache bei Brüterich Press erschienen sind, versammeln seine Auseinandersetzungen mit Worten und Werken in den Sprachen von Dichterfreunden. Unter anderem mit Friederike Mayröcker, über die er seine Magisterarbeit schrieb und deren Gedichte er später herausgab; außerdem über Thomas Kling, dessen Gesammelte Gedichte er posthum ebenfalls mitedierte.
In dem soeben erschienenen, herrlichen Katalog zur Ausstellung »Sprache« im Dresdner Hygiene-Museum, die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gestaltet ist, findet sich ein Gedicht von Marcel Beyer. Wespe, komm. Unmittelbar meint man im ersten Vers zu erkennen, was dort verhandelt wird.
Wespe, komm
Wespe, komm in meinen Mund,
mach mir Sprache, innen,
und außen mach mir was am
Hals, zeigs dem Gaumen, zeig es
uns. So ging das. So gingen die
achtziger Jahre. Als wir jung
und im Westen waren. Sprache,
mach die Zunge heiß, mach
den ganzen Rachen wund, gib mir
Farbe, kriech da rein. Zeig mir
Wort- und Wespenfleiß, machs
dem Deutsch am Zungengrund,
innen muß die Sprache sein. Immer
auf Nesquik, immer auf Kante.
Das waren die Neunziger. Waren
die Nuller. Jahre. Und: so geht das
auf dem Land. Halt die Außensprache
kalt, innen sei Insektendunst, mach
es mir, mach mich gesund,
Wespe, komm in meinen Mund.
Natürlich geht es nur vordergründig um die Wespe, jenes nervös schwirrende Tier, das, wie Marcel Beyer einmal erzählt hat, aus Thomas Klings Wortreich hier in seines eingewandert ist. Zärtlich beschworen wird sie eingangs, die, welch elterliche und kindliche Schreckensvorstellung, in den Mund eines »Ichs« gelangt, wo sie sich in den Stachel der Sprache verwandeln kann, genauer: in den Stachel des einen Wortes, das einen trifft, des Wortes, das man fürchtet und herbeisehnt; später geht es im Gedicht um den Eros (»komm«), um das Befriedigung ersehende »mach mir was«. Die Folge: ein Stigma, denn wer sich dem Stachel der Sprache aussetzt, ist gezeichnet und sucht fortan süchtig mehr von diesem Gezeichnet-Sein. »Wespe, komm«. Das »mach mich gesund« kurz vor Schluss erinnert an das im (katholischen) Ritual der Wandlung erlösende eine Wort, das dem Paradiesischen zugewandt ist: »Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.«
Solch eine Leseweise hat den Sound noch nicht bedacht. Die ersten beiden Zeilen imitieren eine kindergebetsartige Beschwörung. »Wespe, komm in meinen Mund, mach mir Sprache, innen«. Der Ton bricht bald in den Missklang hinein. Das kindliche Ich wandelt sich in ein »uns«, das in seiner ungewöhnlich exponierten Stellung am Anfang der 2. Strophe den Leser mit aller Klanggewalt darauf stößt, dass ein Faden das Gedicht durchzieht und strukturiert: »Mund – uns – wund – grund – und – dunst – gesund – Mund«. In der Jugend, dieser Zeit des »uns«, geht es »heiß« und »wund« zu. Dem Heranwachsen hinein in den umhegten Westen des Sprachgebiets folgt das Studium, genauer: »Wort- und Wespenfleiß«, und die Suche nach dem »Zungengrund«. »Nesquik« und »Kante« erzählen dabei von Genuss und Wahn. »Halt die Außensprache / kalt«, ruft Gottfried Benn hinein, doch das Ich will keinen kühlen Kopf: »innen sei Insektendunst«. Dichtung ist Stachel im Fleische des Alltäglichen. Sound gehört dazu. Wespe, komm ist ein Auftragswerk für den Komponisten Enno Poppe. Die Musik ist Beyers bekannte Leidenschaft. Seine Plattensammlung ist legendär.
Thomas Kling interessiert, wie er einmal sagte, jede Land- und Stadtschaft »als eine riesen summende Insektengesellschaft«, aus der er einzelne Stimmen herauspräpariert. Der Umschlag der großen posthumen Gedichtsammlung trägt Wespenstreifen, wie sie Kling auch als Pullover trug. Von ihm gibt es den Zyklus Manhattan Mundraum, und »Mundraum« ist hier sein Wahrnehmungsinstrument von Sprache und Welt. Nicht selten implodiert in seinen Versen die Vergangenheit in der Gegenwart.
die stadt ist der mund
raum. die zunge, textus;
stadtzunge der granit:
geschmolzener und
wieder aufgeschmo-
lzner text.
In der frühen Kindheit ist der Mund jenes Organ, durch das wir die Welt unmittelbar und unvermittelt in uns aufnehmen und erkunden. Uns einverleiben: Wir essen Gras oder Sand, wir heben zärtlich ein Insekt vom Boden und stecken es erkenntnishungrig in den Mund, nicht anders als ein Stück Banane. Nichts weisen wir ab, alle Sinne sind mit von der Partie: Wir schmecken, tasten, riechen mit Zunge, Gaumen, Nase. Die Außenwelt tendiert dazu, uns nach und nach von dieser ursprünglichen Neugier zu trennen, nicht selten mit Gewalt. Die Zerstörung der Normalität.
Mit dem Ende der frühen Kindheit schieben sich zunehmend Sprachpartikel zur Welterkundung in den Gaumen. Friederike Mayröcker hat diesen Prozess einmal in Assoziationen kumuliert.
in den Mund diesen Tag in den Mund (nehmen) auf die Zunge
auf der Zunge zergehen lassen diesen Tag : der
Geschmack bitter. Diese in Mund auf die Zunge
genommenen Tage alle bitter – aber laut schreiend
diese Tage laut schreiend daß ich sie wieder ausspucken solle
daß ich sie wieder ausspucke da spucke ich auch HERZ aus
Fransen von Herz auch Fasern (zu sehr ins Bild?) alles
voll Blut Fransen blutrot auf Estrich, ich weiß nicht
HERZ ausgespeit, spucke mich selbst aus, spucke HERZ aus,
ROHE VERZWEIFLUNG, schreie brülle möchte irgendwohin
In den Mund genommene Tage, »auf der Zunge zergehen lassen«, ausspucken schreien brüllen. HERZ, ROHE VERZWEIFLUNG. – In Wort, Klang und Rhythmus prallen hier Sehnsucht und Gewalt aufeinander. Wir leben daraus. Es sei das Wortmaterial, das auf sie losgeht, sie angeht und sie anzieht, nicht umgekehrt, hat die Dichterin einmal gesagt. Wie Wespen.
Von inneren Dialogen mit den Wortwerken von Mayröcker und Kling gibt Beyers Wespengedicht Kenntnis. Als Friederike Mayröcker 2001 den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung bekam, sagte Thomas Kling in der Laudatio, ihre Prosatexte, Gedichte und Hörspiele sprächen »von dem kompromisslosen Projekt der Selbstverschriftlichung, das ein durchaus gewalttätiges« sei, »indem das Sprachvermögen der Probandin ständig ausgetestet« werde. Nun, fünfzehn Jahre später, bekommt Marcel Beyer den Georg-Büchner-Preis, was großartig ist, da er auf seine ganz eigene Weise in seinen Essays, Gedichten und Romanen Sprache irisiert, sich ihr in allen Schichten aussetzt und dabei ganz gegenwärtig ist. Gerne würde ich ihn eines Tages zu Hahaiah befragen; ich erinnere mich, dass er einmal die Wanderbewegungen zwischen Smetana und Schmetterling sezierte. Er lebt schon seit Jahren in Dresden und sagt, für einen Schriftsteller sei das vielleicht derzeit genau der richtige Ort. Für Tiefenbohrungen in die Gegenwart, die Geschichte und die Schichtungen der Sprache, wie er sie betreibt? In einer Ton-Collage von Tobias Lehmkuhl zu Mayröckers Zyklus Tod durch Musen hat Marcel Beyer kürzlich gesagt: »Es gibt einfach Zerreißproben, die man aushalten muss, und wer das nicht kann, sollte gar nicht anfangen zu schreiben.« Diesen Satz hätte Georg Büchner glatt unterschrieben.
Zum Weiterlesen:
Marcel Beyer: Sie nannten es Sprache. BP 007, Brüterich Press, 2016. Darin findet sich auch der zitierte Ausschnitt aus Manhattan Mundraum von Thomas Kling, vgl. ders: morsch. Gedichte, Suhrkamp Verlag, 1996.
Sprache. Ein Lesebuch von A-Z. Herausgegeben von Colleen M. Schmitz und Judith Elisabeth Weiss für das Deutsche Hygiene-Museum und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Wallstein Verlag, 2016.
Die Passage von Friederike Mayröcker stammt aus dem Band Mein Arbeitstirol. Gedichte 1996-2001, Suhrkamp Verlag, 2003.
Das Gedicht Komm, Wespe ist abgedruckt in Marcel Beyer: Graphit. Gedichte, Suhrkamp Verlag, 2014.