»Unter welchem Stein sind Sie denn hervorgekrochen?« Mit diesem Satz, allerdings in breitestem Oberschwäbisch, endete kürzlich in Ravensburg eine Schimpfkanonade. Eine Frau hatte sich gegen das Geklackere des Rollkoffers einer Passantin nach und nach in Rage geredet. Ihre immer wieder von Pausen unterbrochenen Flüche erstaunten mich neben der enormen Bildhaftigkeit und Körperlichkeit vor allem wegen des durchgehaltenen »Sie«. Unter welchem Stein sind Sie denn hervorgekrochen? Der Satz ging einen unmittelbar an. Doch wer war dieses vermaledeite »Sie«? Ein Zwerg, ein Wurm, ein böser Geist? Eine Echse? Mit einem Mal kam mir Pasolini in den Sinn, Pier Paolo Pasolini, wie er einst das Verschwinden der Volkssprachen beklagte, Gedichte in mütterlichem Dialekt verfasste und seine Film-Figuren gerne Mundart sprechen ließ. Offensichtlich suchte er Wege, die Ursprünglichkeit, Vielgestalt und Kreativität der Sprache gegen die Universalisierung des Italienischen durch Faschismus und Fernsehen zu verteidigen.
Im Köln meiner Kindheit gab es viel Dialekt, doch nicht bei uns zu Hause. »Hochdeutsch mit Knubbeln« nennt man noch heute den rheinischen Singsang, wie er bei uns gesprochen wurde. Dem Kölsch begegnete man in grammatischen Eigenarten, »für … zu« statt »um … zu«, im alltäglichen Vokabular und in den berühmten Lebensweisheiten, Mer kann jar nit so dumm denke wie et kütt. Außerdem im Puppen-Theater, dem Hänneschen. Vor allem aber gab es die Lieder, besonders Karnevalslieder: Däm Schmitz sing Frau ess durchjebrannt, oder: Da laachste dich kapott, dat nennt mer Cämping, oder auch: Ich mööch zo Fooß noh Kölle jonn, die Lokalhymne aller, die für kurze Zeit fern der Heimat weilten. Wir schmetterten sie wie das kirchliche Fest soll mein Taufbund immer stehen. Später sangen wir: Häng de Fahn eruss, se kütt widder heim noh dir! Eine einheitliche Verschriftlichung gibt es nicht. Dass man in Köln-Nippes ein anderes Kölsch spricht als in der Südstadt, in der Kayjass ein anderes als auf dem Alter Markt, so wie man in Ravensburg ein anderes Oberschwäbisch spricht als im nahegelegenen Sieberatsreute – das alles war mir als Kind unbekannt.
Doch es gab eine Schallplatte, die ich wieder und wieder hörte. Eine 45er. Alle paar Minuten musste ich die Nadel hochheben und neu auflegen:
Ne kölschen Explezeer,
dat es uns Sproch zo Ihr,
et schönste, wat et jitt,
mer do ze höre kritt.
De Muul, die weed jeschwaad,
dat es en wahre Staat,
kin Dinge is esu schön,
wie kölsche Tön!
Ein Streit oder Zank auf Kölsch,
das ist, unserer Sprache zur Ehre,
das Schönste, was es gibt,
man dort zu hören kriegt.
Der Mund, der schwätzt drauflos,
das ist eine wahre Pracht,
kein Ding ist so schön
wie kölsche Töne!
Das Lied behauptet also, dass das Schönste, dasjenige, was einer Sprache am meisten zur Ehre gereiche, worin sie gewissermaßen ihr höchstes Stadium erlange, das Streiten sei – ein Explezeer –, allerdings nur, sofern der Streit im Dialekt ausgeführt werde:
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Do fuul Zitron, do matschig Schlot,
do halv verdrüschten Herringsgrot,
do Duseldier, do Pluutekopp,
dich han se durch de Sod jezopp,
do Seifeschnüss, do Lömmelsgaan,
komm nit an minge Krom eraan,
söns jeiht mir noch et Öllig öm,
do fiese Zömmelöm!
Da ich nicht viel verstand, hielt ich mich zunächst an die – vertrauten – Klänge und Rhythmen und an die Reime: Schlot/Grot oder Pluutekopp/jezopp. Ich fütterte meine Ohren. Vieles konnte ich mir dabei peu à peu zusammenreimen: »Du faule Zitrone, du matschiger Salat, du halb vertrocknete Heringsgräte«. Bei Duseldier und Pluutekopp war es schon komplizierter: Pluutekopp schimpft man unordentliche Frauen; gefolgt von dem Halbsatz »dich haben sie durch die Gosse gezogen« … Nicht alles fand ich amüsant. Jeder Versuch, das ins Hochdeutsche zu übersetzen, misslang. Was genau meint das Ende der Strophe? Öllig öm/Zömmelöm? Ich verstand nichts und war dennoch oder gerade deswegen vielleicht besonders fasziniert vom Reichtum dieser Ausdrücke. Zömmelöm ist einer, der rumhängt, nicht voranmacht, immer zu spät kommt. Öllig ist die Zwiebel – und kaum versteht man den Satz, den man hört, steigt einem der abscheuliche Geruch einer verfaulten Zwiebel in die Nase. Sprache ist eben aus mehr als Sinn und Verstand gemacht. Und die Laute, Geräusche, Gerüche und Bilder, die sich dort, im Kölschen immer weiter auftaten, waren dem Leben der Straße abgekupfert, wo es bekanntlich umso schöner ist, desto höher es hergeht.
Damals lernte ich die Wortkaskaden auswendig wie eine Fremdsprache, so wie ich später Georges Brassens wieder und wieder hörte, bis ich ihn auswendig konnte. Als Allererstes hatte mich der Sound. Erst später lernte ich, was das lautgewöhnte Ohr von selbst wahrnahm: dass im Kölschen jeder Vokal – anders als im Hochdeutschen – mindestens drei verschiedene Längen kennt und dass diese Längen in sich noch enorme Variationen besitzen. Heute frage ich mich: Ist es so, dass sich in allen Dialekten neben den liebkosenden Worten die Schimpftiraden besonders ausprägen, weil hier, in der Rage, das Maul besonders schwungvoll jeschwaad wird? Hinzu kommt, dass sich im Ureigenen der Volkssprache die – meist doch volksferne – Obrigkeit besser und hingebungsvoller beschimpfen ließ, zumal diese das Gesungene kaum verstand und folglich nicht ahnden konnte. Mit dem Lied gegen den untätig herumstolzierenden Schutzmann zum Beispiel (Do steiht ne Schutzmann, do steiht ne Schutzmann, dä hätt de janze Tach noch nix jedonn) – einst wohl gegen die preußische Besatzung erfunden – umtanzten wir an Karneval die Polizisten und demontierten so ganz nebenbei damalige Respektspersonen. Aus Jux und Tollerei. Was Spaß darf, darf Ernst noch lange nicht.
Die Texte der Lieder waren einfach da. Zeitlos. Was genau aber meinten sie? Bei uns zu Hause kursierten vor allem die reichhaltig im Kölschen vorhandenen körperlichen Adjektive: puddelich, iggelig, krüddelich oder üsselig. Dass die Kölner für Blutwurst nicht Bloodwoosch, sondern Flönz sagen, hatte sich auch unter den Immis, also den Zugezogenen, längst rumgesprochen; außerdem sagen wir Kölner Sprütchen, wenn wir Rosenkohl meinen, Fisternöll für einen Flirt oder Seitensprung und dä is wieder am Kallen für »der schreit schon wieder herum«. Der Bürgersteig heißt Trottoir und die Butter heißt Beurre, doch anders, als man denkt, heißt Mösch nicht Fliege (wie russisch mucha oder französisch mouche), sondern Spatz. So weit, so fremd entlehnt. Das Bett ist im Kölschen scherzhaft auch mal ne Lappekeß (Lappenkiste), und von jemandem, der spinnt, sagt man: Dä hätt doch en Ääz am kruffe – »dem kriecht doch eine Erbse (durchs Gehirn)«. Wie viel Scherz und kleine Gehässigkeit sich so nebenbei unterbringen lässt, erkennt man am lateinisch-deutschen Mix des Kosewortes Pilarhillije für jene, die im Dom, um den Gottesdienst zu überstehen, Säulen aufsuchen, um sich anzulehnen. So global die Anreicherungen, Dialekt ist beides: Binnenverständigung und Binnenversicherung, er bezeugt und schafft Zusammenhalt. In Zeiten von Migration und Mobilität kommen Löcher auf, sodass sich, damit alles gut geht, der Zusammenhalt auch über die Sprache immer neu verknubbeln muss.
Als 1956 im Kölner Greven Verlag Adam Wredes Neuer kölnischer Sprachschatz erschien, behauptete der Autor, dass die kölsche Sprache sich noch literarisch entfalte, »trotz starker Zunahme hochdeutsch Sprechender«. Doch manches Wort trug bereits damals ein »vorgesetztes Kreuzchen« zur Kennzeichnung seines Schwindens oder Veralterns. Sprache ist immer im Wandel. Und die Sprache hält mehr als nur das Gespräch zwischen den Menschen in Bewegung. Ähnliches wussten schon die Dichter des Barock, die in ihrem damaligen Aufbruch der deutschen Sprache viel neues Leben beigesellten. »Mückengläslein« nannte einer der Barocken das Mikroskop – ein poetischer Treffer, kommentierte Jahrhunderte später der Dichter Thomas Kling.
Es heißt, der Dialekt sei Herz und Werkstatt der Sprache, ihr seelisches Element. Er performiert immer wieder aufs Neue die Einsickerungen des Fremden ins Eigene. Sprache ist plural; sie muss im Werden bleiben. Im Kölnisch-Ripuarischen lebt vor allem die Koexistenz mit Frankreich und den Niederlanden. Aber auch England und fernere Kulturen haben mitgemischt. Angeblich, so liest man, wurde bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert sogar offiziell auf Kölsch geschrieben – die Abschaffung dieser Schriftsprache wäre so gesehen ein Kollateralschaden von Luther und Gutenberg. Diesem Teil des Volkes wurde eben nicht aufs Maul geschaut.
Mundart und Mundartliteratur sind indes verschiedene Dinge. Während die Mundart, gelenkig, wie sie ist, sich im internationalen Verkehr fortwährend erweitert (siehe auch Kölschrock), kultiviert die Mundartliteratur in der Regel einen Sprachzustand der Vergangenheit. Sie ist eine Art Heimatschutzreservat. Und bei allem Amüsement: Die Verkölschung berühmter Filme wie Dinner for One oder Pulp Fiction gehört hierher.
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Spuren des Dialektes – Klänge, Worte, Rhythmen und Vokalvariationen – finden sich auch heute noch in so mancher zeitgenössischer Dichterwerkstatt, nicht nur in Österreich und Südtirol. Doch das ist ein anderes Thema.
Do Duseldier, do Pluutekopp, dich han se durch de Sod jezopp – wo man schimpft, da lass dich nieder, könnte man feststellen, nicht nur weil dort, wo man schimpft, nicht geprügelt wird, sondern vor allem der poetischen Treffer wegen. Nicht nur der Ravensburgerin stolperte die Poesie aus dem Maul. Ihr »Sie« allerdings, das mich so verwunderte, scheint im Dialektalen eher eine Rarität; vielleicht ist es ein Überrest, ein Sendbote aus dem »Altertum« der Sprache, das zu erobern Pasolini einst ausgezogen war.