Time will tell nothing but I told you so.
W. H. Auden
Auf dem Bildschirm sieht man ein junges Mädchen, das blonde Haar von einem gepunkteten fliederfarbenen Kopftuch fast komplett überdeckt; dazu ein hellgrünes buntbedrucktes T-Shirt. Verlegen hält sie ein raues braunes Objekt in der Hand – oval wie ein Ei, das sich nach oben hin in einen Hals verjüngt. Spontan assoziiert man Kokosnussschale als Material. Wenn sie das Ei schüttelt, hört man ein Geräusch und denkt an eine anthroposophische Kinderrassel. »Dies ist das funktionslose Ei ›Geheimnis‹«, sagt die junge Frau, das Ei mit spitzen Fingern in die Kamera haltend. »Wenn Sie nicht wissen, was etwas ist, können Sie sich verschiedene Geschichten darüber ausdenken.« Eine ratlose Geste folgt. Das Ei stamme aus einem Schweizer Dorf namens Ittingen, erzählt sie, und sei aus Hopfenfasern gemacht. Zwar sei der Hals oben offen, aber man könne nicht hineinschauen. Wenn das Mädchen das Ei ungelenk ans Ohr hält und schüttelt, hören auch die Zuschauer, dass es etwas gibt im Innern. Was, wisse man nicht, sagt sie. Geheimnis macht erfinderisch.
Die Szene ist Teil eines Films, den man derzeit im Rahmen der Ausstellungsserie »International Village Show / Myvillages« im Gartenhaus der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig sehen kann. Die Menschen in dem Film, die nacheinander unterschiedlichste Gegenstände aus verschiedenen Regionen der Welt anpreisen, sind keine selbstverständlichen Bewohner des globalen Konsum- und Werbezeitalters. Das merkt man schnell. Auftrittsungeübt sitzt eine rundliche Frau im ärmellosen Oberteil mit Blumenmuster auf einem Sessel am Tisch und hält wie im Werbespot ein Marmeladenglas in die Kamera: Orangenmarmelade, aus einem Kloster in Spanien. Sie redet vom eigenen Obstanbau, testet selber den feinen, leicht bitteren Geschmack der Orange, wie sie sagt, und versichert am Ende in die Kamera: »Wenn Sie das kaufen, können Sie es selbst probieren. Den Geschmack kann man durch das Video leider nicht wiedergeben. Sie sollten die Marmelade unbedingt probieren.«
Die kurzen Clips sind voller Komik, die Werbenden beiderlei Geschlechts. Sie alle stammen aus dem russischen Dorf Zvizzhi. Es liegt am Fluss Ugra, 200 km entfernt von Moskau auf dem Weg nach Kiew. Mit dem Ende der Sowjetzeit ist auch ihr Dorfgefüge zusammengebrochen. Die Kolchose verschwand. Die Menschen, der Fluss, die Tiere und die Gräber blieben. Samt Pferden, Kühen und Wölfen.
Seit vielen Jahren arbeiten Kathrin Böhm (London), Wapke Feenstra (Rotterdam) und Antje Schiffers (Berlin) unter dem gemeinsamen Stichwort »Myvillages« in ländlichen Regionen. Sie bereisen Dörfer in Ghana, Irland, Schweiz, Holland und Südafrika und animieren die dortigen Bewohner, lokale Produkte für die von ihnen initiierten International Village Shows herzustellen. Gleichzeitig versuchen sie, an jedem dieser Orte eine Verkaufsstelle für lokale, aber auch für auswärtige Myvillages-Produkte einzurichten. In Zvizzhi konnten sie die Bürger 2013 zur Teilnahme gewinnen. Sie häkelten Blumen für künstliche Sträuße, formten Schalen und Tiere aus lokalem Ton, den sie vorher selbst gestochen hatten. Eine Postkarten-Edition entstand. Nun können die Produkte vor Ort, also in Zvizzhi, aber auch in der Galerie in Leipzig und an anderen Orten gemeinsam mit Produkten aus den anderen »Villages« ausgestellt und sogar verkauft werden. In der Leipziger Galerie ist es bereits die 5. Ortschaft. Derzeit steht Olga Gartman aus Moskau hinterm Tresen.
Anders als im klassischen Fair-Trade-Handel gelingt es diesem, aus Kunst geschaffenen Netzwerk, jeden Paternalismus zu meiden. Denn ihr Handel ist von anderer Art, wie das Video zeigt. Mit den Produkten aus fernen Orten werden auch Ideen importiert – so bekommen die Menschen aus Zvizzhi ein »funktionsloses Ei ›Geheimnis‹» in die Hand, aber auch Froschlöffel, Kartoffelsäcke, und vieles mehr. Für den Film baten die drei Kunstfrauen die Dorfbewohner, Reklame für diese unbekannten Produkte zu machen, die es im Dorfladen plötzlich zu kaufen gibt. Nun exponieren die Bewohner sich einzeln und nacheinander vor der Kamera, ein jeder und eine jede mit einem Produkt, dessen Fremdheit sie hervorheben, dessen Nutzen sich ihnen selbst nicht immer erschließt und den sie dennoch mit großem Witz bewerben. Und bei jedem Clip tut sich ihr kleiner Lebenskosmos auf. Immer wieder schaut die alte Zeit durch. Einmal hält einer der Männer einen Teller mit Getreidemuster aus der Cartuja de Sevilla in der Hand und wirbt dafür mit den Worten: »Alle haben das Geschirr bereits gekauft, es gibt nur ganz wenige, beeilen Sie sich.« Die Mangelwirtschaft aus Sowjetzeit und Gegenwart steckt ihm in allen Gliedern. Stimmen von den Rändern des globalen Weltgetümmels.
Die Künstlerinnen von Myvillages verfolgen mit ihrer Kunst keinen Selbstausdruck, ja, sie bringen sich fast zum Verschwinden in ihrem Tun. Auf den wenigen Dokumentarfotos, auf denen sie jeweils im Kreis der Dorfbewohner zu sehen sind, erkennt man ihr lebensfrohes Vertrauen in die autonomen Ressourcen der ihnen unbekannten Welt. Mit den Bauern setzen sie auf das konkrete Einzelne: den Torf, die Bienen, den Traktor und die Früchte der Erde mitsamt der Zubereitung jedes einzelnen Mahls.
Ein wenig erinnern die Aktionen der Myvillages-Frauen, so anders sie sind, an den Glauben, »der Berge versetzt«, wie ihn der in Mexiko lebende belgische Künstler Francis Alÿs 2002 mit Bewohnern eines Armenviertels in der Nähe von Lima realisierte. Mit je einem Spaten ausgestattet, zogen die Männer damals aus, um in der nahegelegenen Wüstenlandschaft den Kamm einer 200 Meter hohen und 500 Meter langen Sanddüne durch Schaufeln um wenige Zentimeter zu versetzen. Von der Kunstaktion gibt es im Sand heute keine einzige Spur. In Alÿs’ Film und den Filmstills bewundert man die Schönheit der sich bewegenden Menschenschlange in der so reglos scheinenden Natur. Doch das Bedeutendste ist wohl, was diese sinnlose Tat mit den Beteiligten anstellt. Die Aktion birgt ein Geheimnis, wie das funktionslose Ei. Doch sie stiftet neue Geschichten, Erzählungen, Zugehörigkeiten, Zusammengehörigkeiten. Wie heißt es bei Hannah Arendt: Wir fangen etwas an, was daraus wird, wissen wir nie.
© Fotos: Myvillages 2015