Samstagmittag liege ich mit blauen Flecken und meinem Telefon augenzu Schlafanzug im Bett und höre Laura Naumann und liebe, wie sie Luz’ Stimme liest, und selbstverständlich verliebe ich mich sofort in Rosa, und selbstverständlich weine ich später noch, und vor allem möchte ich, dass es nie aufhört.1
2011 war mein Oberkill. Jede*r hat mit Prosanova sein oder ihr Oberkill, es ist entweder die erste besuchte oder die erste selbst mit zusammengebaute Festivalausgabe oder beides auf einmal. Die Schule selber war schon Oberkill, man* fährt verhältnismäßig ahnungslos da rein, in dieses Nest, dem bald die westdeutsche Einkaufszone wegbröckelt und alle Wohnhäuser und die Leute, die in den Häusern leben auch, und das Nest ist ab dann nur noch Domäne Punkt, und Domäne Punkt ist der ozeanische Ozean an Gegenwart, der über einen rüberschwappt. Wie viel Jetztzeit und Echtzeitproduktion in diesem bis dato Abstraktum Literatur steckt, das hatte vorher (außer Juan Guse vielleicht) niemand gerafft, der oder die etwa zur gleichen Zeit wie ich angefangen hat. Für uns ZwanzigZehner-Leute hat vor Hildesheim die Literatur nach Kracht und Hermann aufgehört, und bis Kracht und Hermann hatten wir 90 % allein Deutschsprachiges übersehen. Ungefähr. Und das platzt dann auf und wird mordsvielstimmig und ultrajetzig, weit eben, wie ein Ozean, den bis dahin keine*r auf der Karte hatte. Von da an weiß man* gleichzeitig auch, wie leer diese Stelle auf der Karte bei den meisten einundachtzigmillionenfünfhunderttausend Bundesbürger*innen ist, die sich weder im Betrieb noch an den Schreibschulen bewegen, und das ist abwechselnd amüsant und frustrierend, aber meistens okay, denn man* sagt sich ja gleichzeitig auch: Hier ist es schön, hier ist es hell und wach, dies Nest soll vorerst meine Bubble sein, hier richte ich mich ein. Jedenfalls: Hildesheimanfang und Prosanova 2011 waren bisher die größten Kracher in meiner literarischen Timeline, und danach dachte ich in dieser ozeanischen Bubble planschend lange Zeit ahnungslos und probeweise arrogant: Nö. Da kommt jetzt auch nichts mehr, da kommt so schnell nichts ran, hier kenne ich mich aus, ich hab ja alles schon gesehen. Aber dann ist knapp zehn Jahre später Donnerstag, und dann ist Freitag, und dann ist Samstagmittag, und ich liege mit dem Telefon im Bett.
Und möchte also, dass Laura nie wieder aufhört, und als sie doch aufhört, möchte ich meinen Bruder anrufen und meinen Vater anrufen und den Mann meiner Schwester anrufen und rufen: Hier! Hört! So! In diesem gekachelten 24-Stunden-Burgerladen liegt das so genannte STRUKTURELLE, das TOXISCHE, das generische MASKULINUM und all diese Schlagworte, die für euch nur Schlagworte sind, über die ihr hämisch den Kopf schüttelt, weil Häme eine der am besten eingeübten Relevanzreduktionsstrategien ist, diese Schlagworte liegen hier auf dem Tresen, aber saftig, mit Fleisch dran. Und NICHT wie in euren Augen in einem weit weg von euch phasenweise aufploppenden Hashtag und NICHT in der Verspätung, mit der sich in euren Augen Hollywood-Diven darüber bewusst werden, in was für einer Industrie sie gelandet sind und mit wem sie sich da nun mal eingelassen haben, und sonst betrifft das doch keine, in euren Augen – NOT! möchte ich rufen, aber dann klingelt die Guckgruppe am Telefon, und ich packe alle Brote und Aufstriche und die Riesentomate von gestern, den Gruppenaperol und die Rhabarberschorle in einen Rucksack und fahre mit dem Fahrrad zu Fabians Wohnzimmer, wo die anderen irgendwie schon seit drei Stunden wieder hellwach weiterbingen, und erwische mich auf dem Fahrrad, wie ich mir zu meinen erstaunlich wenig verkaterten Ausweichmanövern gratuliere und denke: Das habe ich jetzt aber gut gemacht, in der Stimme von Anaïs Meier, und sage mir, bis ich bei Fabian ankomme, immer wieder: Das hast du jetzt aber gut gemacht, super, Gerhard du, das bin ich, ich bin Gerhard, denn seit gestern, seit Anaïs Meiers drittem Text wird jeder Moment überstiegener Selbstgratulation bei mir so heißen: Gerhard, mit leichtem Zungenschlag im R.2
Wahrscheinlich war ich auf dem Klo oder habe in der Küche gerade die Rhabarberschorleglasflasche auf den Boden geworfen, jedenfalls komme ich ein paar Minuten nach Beginn der nächsten Lesung in Fabians Wohnzimmer und sehe auf dem Bildschirm Özlem Özgül Dündar, wie sie herrlich stumm und fein angedeutet mit dieser beknackten Video-Heimfilm-Filmsituation hadert – sich alleine irgendwo, in irgendeiner Stadt, in der eigenen Wohnung vor einer Kamera platzieren, gucken, dass das Licht und die Haare stimmen, und dann voll frontal ins Leere sprechen –, und als sie anfängt zu lesen, bin ich baff, und so bleibe ich die nächsten 15 Minuten. Und höre, wie um mich herum Knie angezogen und Köpfe in Händen vergraben werden und aus verschiedenen Richtungen zunehmend unangenehm berührt geächzt wird, während Jeanette Fischer3 Fische auf den Kopf gelegt werden, bevor ein Schwarzer Neuankömmling als Köder instrumentalisiert und Jeanette Fischer mehrfachvergewaltigt wird. Und ich habe Ehrfurcht vor Özlem und der konsequenten Brutalität und Dichte ihrer Erzählung und der Konsequenz und Körperlichkeit dieser pubertär-männlichen Rollenprosa, und als die Lesung vorbei ist, erfahre ich von meiner Watch Group, Özlem hat den Text eines anderen gelesen, Julian Amankwaa (1991–2017), und damit dreht sich in meinem Kopf der ganze Text in seiner Perspektivierung einmal um die eigene Achse.
Es braucht in diesen dreieinhalb Tagen kein solches Missverständnis, was die Vorannahmen zur Sprecher*innenposition betrifft, um teilweise bis in die Körperfasern zu spüren, wie fundamental eben diese Positionen die Haltung eines Textes mitbestimmen. Denn darum kreist es die ganze Zeit: Wer spricht von welcher Position aus zu wem, welche Stimmen sind da zu hören, von welchen Rändern erzählen sie, und wer definiert, wo diese Ränder eigentlich liegen? Und innerhalb der Ränder wäre dann also der Raum, oder wie, das eigentlich wesentlich deutschsprachige Zentrum der Gegenwartsliteratur. Und in der Mitte des Raumes steht der literarische Betriebsrat mit der Rhabarbersaftschorle in der Hand vor dem Billyregal und sagt: Das ist die Bubble, bis hierhin geht sie, dort sind die Ränder, dahinter beginnen die Marginalien (in denen lassen sich gut Quoten sammeln), und bald danach hört sie auf, und du bist raus. Du bist ein Token, und du bist ein Token, und du bist raus. Dass das der O-Ton der letzten Jahrzehnte literarischer Kurator*innen- und Gatekeeper*innenarbeit war und wie fisselig dünn und ausgesprochen wenig vielstimmig seine Stimmen, das läuft – geilerweise meistens im show don’t tell-Verfahren – im Umkehrschluss dieses Festivalprogramms wie eine auf den Kopf gestellte Headline die ganze Zeit mit: Ränder können verschoben werden, und bis dahin sind sie blinde Flecken.
Auch: Wie leise meine weiße, szenebesetzte Watch Group durch die Abwesenheit der Ablenkung durch Bars, Dance Floors und Peer Groups über diese Tage war. Über die eigenen blinden Flecken nicht mit dem nächsten Hit wegtanzen. Keine Wodkashot-durchsetzte Konsenfindung, wenig sofortige Einordnung, Zuordnung und Bewertung. White fragility-mäßig die Anflüge von Scham übers System und die eigene Position darin zulassen. Ansonsten Klappe halten und zuhören.
Irgendwann sagt Paul auf dem Weg zur Zigarette im Garten: Da fangen die Kommentare von der Seite her schräg an zu flimmern, und ich verstehe überhaupt nicht, was er gerade meint, aber es stimmt. Es flimmert. Und es kommt nicht von den Screens, nicht aus der Isolation der Augen und Ohren vor den Endgeräten, nicht von einer vermeintlichen Hyperkonzentration, die anstrengender wäre, weil sie nur ein digitales Gegenüber hat. Das Flimmern und die Hyperkonzentration machen allein die Texte, die Stimmen und die Synapsen. Die Texte und die Stimmen übernehmen von Anfang an die Regie dieser drei Tage. Die sind am Ende stärker als das Medium, auf das sie dieses Jahr angewiesen sind, durch das sie alle durchmüssen, ob akustisch und visuell durchkomponiert oder schlicht gelesen. Die stülpen sich von Anfang an aus dem Endgerät heraus in den Raum und scheren sich nix, dass sie in diesem Jahr keinen physischen Raum haben, weil die können das selbst: Räume erzeugen, Raum einnehmen, sich Platz machen.
Jemand hat sich in der viel zu dünnen Vorberichterstattung vorauseilend Sorgen um die heißgeliebte Aura der Autorin gemacht, deren körperliche Präsenz im Browserfenster verloren gehen könnte. Fehlende Aura. Wer Aura möchte soll bitte ein Festival für deutschsprachige oder internationale Gegenwartsaura besuchen und sich da ein für alle Mal eindecken. Ich schicke meine Aura mit meinem ganzen Respekt im Schlepptau zu den sechs Frauen der künstlerischen Leitung für die Erweiterung vom Raum, fürs Platz-Machen und das, was sie da zustande gebracht, zusammengetrommelt und überexpectedly, overperformingly fullfilled haben. Jenseits von dem ganzen technischen Fuzzel und der Hirnexplosion, die es gewesen sein muss, nach zehn, zwölf, vierzehn Monaten Vordenken innerhalb von acht Wochen, Tagen, Minuten alles zehn, zwölf, vierzehn Monate Vorgedachte nochmal umzudenken. Jenseits davon (lass diese Festivalausgabe nicht nur und für immer am Medium und den Umständen messen, in die es reingeworfen war) einfach für die Geilheit, die Konsistenz und den Oberkill von Programm. Kracher. Mein Hirn dampft. Es war ein Fest. Ihr habt die Karte umformatiert, die lange mein schnöseliges Arbeitsumfeld war. Es ist heller und wacher geworden, ich bin in einen Ozean gefallen, ich weiß jetzt ein bisschen mehr als vorher, ich hätte noch lange zuhören können. Eure Aura fand ich außerdem megaheiß. Die blauen Flecken kamen von dem Baum, in den Brodowsky und ich Samstag gegen vier Uhr morgens gestiegen sind. Es hat uns gut durchgeschüttelt.
1Laura Naumann: SWELL, Romanmanuskript. (Prosanova-Veranstaltungstitel: Vom Fürchten und Anschwellen) Zurück zur Textstelle
2Anaïs Meier: Mit einem Fuß draußen. Müsste ich einen Text aussuchen aus den ganzen, was weiß ich, 40 bis 60, wäre es (neben dem von Laura Naumann) ein anderer von Anaïs Meier: Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken (mikrotext, August 2020), und das Video dazu. Der Käse ist aber auch sehenswert. Und Yade Yasemin Önder. Ralph Tharayil und Tanasgol Sabbagh. Die Flaneusen aller Länder. Und – Zurück zur Textstelle
3Im Text: Janettfischer. Erzählung veröffentlicht in: Edit N°75. Zurück zur Textstelle