Laudatio auf Theresia Prammer zum Paul Scheerbart-Preis
In einem poetischen Essay Zum Thema Nachdichten. Eine erste Niederschrift nach dreissig Jahren1 beschreibt die Dichterin und Übersetzerin Elke Erb die Annäherung an ein Gedicht, das es noch einmal in anderen Worten zu schreiben gilt.
Ich werde die fremde Sprache in dem Gedicht verstanden haben
und weit in seine und meine eigene hineingegangen sein,
wenn ich es in meiner Sprache gelöst haben werde.2
Dieses Essaygedicht steht in der Mitte von Theresia Prammers Dissertation Übersetzen. Überschreiben. Einverleiben. Verlaufsformen poetischer Rede (Wien: Klever 2009), die das Phänomen der Autor:innenübersetzung kartiert.
Es umkreist die initiale Unsicherheit im Angesicht des Vortexts, die Grund-Losigkeit, das Ausgangs-Nichts – und die Freiheit, das Hochgefühl der Übersetzerin; aber auch: den Hader, Tinnef, Pfusch, die Plackerei, Schinderei, Sklaverei:
Steinbrucharbeit ist es, einem Gedicht die eigene Sprache zu öffnen.3
Der Steinbruch der Sprachen ist nur ein Arbeitsplatz der Preisträgerin,
ist doch bekanntlich »[j]ede Übersetzung [] eine unbestimmte, unendliche Aufgabe.«4 Aber – so schreibt Theresia Prammer – sie muss gemacht werden: »weil Texte immer wieder berührt bzw. auf realen und imaginären Bühnen aufgeführt werden müssen, neuer Verkörperungen bedürfen.«5
Dieser Satz ist, so denke ich, Credo und Handlungsmaxime für Theresia Prammer, die Gedichte immer wieder berührt und ihnen Bühnen bereitet, imaginäre wie reale, die Aufführungen kuratiert und inszeniert, die neue Verkörperungen ermöglichen.
Die »Übersetzerin als Resonanzraum«, so liest sie die Annäherungen Elke Erbs. Und sie weiß: »Ein Gedicht zu übersetzen, heißt auch, es vorübergehend zu bewohnen«.6 Ein markantes Bild, in dem sich Leben, Literaturvermittlung und Sprachen begegnen – nicht nur, wenn Theresia Prammer über ihre Arbeit schreibt:
Gedichte als Bühnen, Häuser, Räume:
Mit Bachtin ist »das Übergehen von der einen in die andere« Sprache
»wie der Gang von einem Zimmer ins andere«.7
Ich will kurz über Räume sprechen – und über Herzenssachen.
Denn Theresia Prammer ist Übersetzerin, Mittlerin im umfassendsten und emphatischen Sinne des Wortes, sie öffnet Räume, baut Häuser, bahnt Wege.
Wir müssen uns Theresia als eine Architektin vorstellen – oder als: eine Raumakustikerin: Sie trägt Sorge dafür, dass die italienische Lyrik auch im deutschsprachigen Raum Gehör und Widerhall findet, mit ihren Übersetzungen von Pasolini, aber auch von Montale, Zanzotto, Amelia Rosselli8 und vielen anderen.
Mit ihrer Online-Anthologie italo.log baute sie eine Basisbibliothek der modernen italienischen Lyrik in 111 Folgen;9
aber sie öffnet die Türen auch in die andere Richtung:
2011 trug sie mit der Lyrik-Anthologie Ricostruzioni. Nuovi poeti di Berlino
die deutschsprachige Gegenwartslyrik nach Italien.10
Konkrete Bühnen schuf sie als Kuratorin der Kulturtage Lana in vielen vergangenen Jahren eines gleichsam monumentalen Festivals Lectura Dantis in 33 Gesängen in Berlin 2021.11
Konkrete Räume: als Salonniere, in einem von ihr 2013 in Berlin eingerichteten Salon Attico – einem Gesprächsraum mit Denkweite für die Begegnung von und mit internationalen Dichterinnen und Dichtern. Motto: »Eine solche Begegnung folgt keinem festgelegten Parcours. Lieber bringt sie etwas in Gange, indem sie es in den Raum stellt, einen Raum dafür bereithält.«
Und wenn sie das öffentliche Lesen »eingeräumtes Sprechen« nennt,
dann weiß sie genau, was sie sagt – und was sie tut: Die Bühne bereiten.
Sie ist übrigens auch eine brillante Laudatorin; da können Farhad Showghi, Steffen Popp oder Monika Rinck von Glück reden.12
Imaginäre Räume öffnen ihre philologischen Arbeiten und Essays, in denen Übersetzung, Übersetzungsreflexion, Übersetzungskritik und Kritik der Übersetzungskritik ineinandergreifen; sie werden erweitert zu einer philologisch-hermeneutischen Theorie in und aus der Gedichtübersetzung – besonders dort, wo man sich dem Unverständlichem annähert, wie es auch im Herzen ihrer Zanzotto-Studie Lesarten der Sprache um das Verstehen geht13, und darum, dass »die Grenzen des Verstehens nicht notwendig die Grenzen des Übersetzens sein müssen.«14
Imaginäre Räume öffnen ihre Essays durch die »paratextuelle Präsenz«15 der Übersetzerin. Die Anmerkungen in Nach meinem Tod zu veröffentlichen sind Essays en miniature, dazu das rasante Nachwort, das das Buch beschließt: Wie kenntnisreich, emphatisch und virtuos sie – allein schon durch die subliminale Tempus-Choreographie – durch Pasolinis Leben führt: Das beweist einmal mehr, wie sehr das Übersetzen eine Schule des Stils ist, für »Sprach-Gefühl«.16
Ihre literaturgeschichtliche Ausbildung hat Theresia Prammer nie verleugnet. Sie vermag Pasolini in den Kreis zeitgenössischer Dichter zu stellen, in den Gedichten die Echos der Tradition zu vernehmen und hörbar zu machen – etwa Dante in Pasolinis Trasumanar.
Ihr Wissen um poetische Formen wie Terzine oder Epigramm ist der Nährboden für die intime Kenntnis der Werkstatt des späten Pasolini, einem »Reigen der künstlerischen Ausdrucksweisen«,17 für die drei Gedichtbände La religione del mio tempo (1961), Poesie in forma di rosa (1964) und das wuchtige Spätwerk Trasumanar e organizzar von 1971, die in Nach meinem Tod zu veröffentlichen in Auszügen versammelt sind, dazu verstreut veröffentlichte oder aus dem Nachlass gezogene kleine Werke.
In der Tat, liebe Jury, Theresia Prammer ist »feinfühlig, akribisch, engagiert«;18 aber sie wirft auch die Haltung, die Passion, wo nicht: Obsession in die Waagschale, die es für Pasolinis Sprengsätze braucht, für eine leidenschaftliche Übersetzungsarbeit, die mit den Buchdeckeln nicht endet: »›Ans Herz fassen.‹ Pasolini konnte das.« 19
Ein Essay von Theresia über Übersetzen als Beziehung trägt den bezeichnenden (von W. H. Auden geborgten) Titel: »Let the more loving one be me.«20
Vielleicht ist Pasolini der Glutkern ihrer Hingabe für die italienische Lyrik (nicht nur) des 20. Jahrhunderts. Aber wie schwierig ist im Zustand der Hingabe die Selektion!
Weil sie findet, »alles ist von Belang in diesem ergreifenden Lebensprojekt und Projektleben«, kuratierte Theresia schon 2009 das Dossier Eine Wissenschaft vom Licht für die Zeitschrift Schreibheft; und sie zitiert darin einen Aufsatz Pasolinis aus dem Jahr 1973: »Man muss alle Menschen lieben, sich zu allen Menschen hingezogen fühlen, um sich einen Teil davon herauszugreifen und einen anderen zu verwerfen.« Sie fährt fort: »Ähnlich ging es auch mir …« 21 So erschien unlängst das Wagenbach-Oktavheft Ein Unfall im Kosmos mit 112 bislang (auch in Italien) unveröffentlichten Sonetten, die Pasolini 1971-73 nach Ninettos ›Verrat‹ niederschrieb.
»Meinen Realismus bezeichne ich als Liebesakt; wer nicht liebt, der versteht nicht«, schreibt Pasolini. Und wer nicht liebt, versteht vielleicht auch nicht genug, um ihm zu übersetzen.
Übersetzungsliebe im Sinne Benjamins als Treue und Freiheit.
Und der Gedanke, dass der Raum, den Pasolini einst in politischen, künstlerischen und intellektuellen Zirkeln inner- wie außerhalb Italiens eingenommen hatte, bis auf eine verblichene Ikone leer werden könnte, ist Theresia Prammer schwer erträglich: Die Pasolini-Leser:innen werden weniger. Und »Pasolini fehlt«:
»Was er« – so im Schreibheft-Dossier – »zu sagen gehabt hätte über Berlusconis Schmierenkomödie, über zeitgeschichtliche Umwälzungen, über Aids, übers Internet […].« Und die Übersetzerin weiß, dass die »Mischung aus Leidenschaft, Libido, politischem Scharfsinn und poetischem Furor, Intellektualität, Sentimentalität und Zivilcourage, Zärtlichkeit und Zähigkeit, Eitelkeit und Eifer, wie Pasolini sie verkörperte, im gegenwärtigen Europa nicht ihresgleichen hat.«22
Aber sein Werk, so die Gewissheit, »wird lebensfähig bleiben; verwaist, verloren, was auch immer; aber lebensfähig. Kein ›Scheiter-Haufen‹, sondern ein wunderbarer, leer stehender Palast, der noch nicht ausreichend ausgeleuchtet wurde.«23
Nun sind wir von den Räumen und Zimmer über das Herz beim Palast angelangt. Umso dringlicher ist das Übersetzen als »belebendes Lesen« Pasolinis. Mit dem Suhrkamp-Band gibt Theresia Prammer ihm den Raum zurück, seine Stimme, seine (mit Zanzotto) Vibratilität, vibratilià. Sie lädt uns ein: in den Palast Pasolini – und leuchtet ihn nach Kräften für uns aus. Immer weiter, immer heller, al sole.
Erst so erfüllen sich die Worte Pasolinis:
Sprechen ist Am-Leben-Bleiben: »Wer nicht spricht, der wird vergessen.«
Sprechen ist Sein: »Aber ich bin nicht tot und ich werde reden.« 24
Herzlichen Glückwunsch zum Paul Scheerbart-Preis, liebe Theresia!