Die USA sind groß, ungelogen kann ich das sagen, weil ich dort gewesen bin, mehr breit als hoch ist das Land, an dessen südöstlichem Ende sich Florida befindet. Hier liegt Orlando. Man kann sich einen Ausflug hierher leisten, wann immer man sich Urlaub leisten kann. Das Klima ist mild, all year long, mehr als 60 Millionen Touristinnen und Touristen pro Jahr, Amerikas beliebtestes Urlaubsziel, sagt meine Schwester, familienfreundliches Programm in mehr als zehn Vergnügungsparks, Sea World, Walt Disney World, Universal Studios und The Holy Land Experience. Ein christlicher Vergnügungspark? Ja, sagt sie. Biblical museum and park, steht auf der Website, um die sights and sounds des Heiligen Landes zum Leben zu erwecken, every Tuesday through Saturday von 10 bis 18 Uhr, sonntags werden Messen gehalten. Ich werde neugierig.
Wir fahren über den President Barack Obama Parkway, vorbei an Jiffy Lube, Dollar Tree und Target. Meine Schwester parkt ihren roten VW neben ein paar Reisebussen. Es ist Samstag, kurz nach 10 Uhr. Die Show sei bereits in vollem Gange, teilt man uns am Eingang nach einer Sicherheitskontrolle mit. Wir machen ein paar Schritte, bis wir auf den offenen Jerusalem Marketplace stoßen. Eine Menge Menschen, dazwischen ein paar Schauspieler mit Mikroports. Jesus und ein Pharisäer verhandeln gerade darüber, wer den rechten Glauben hat. Ihre Kostüme erinnern an Monty Pythons The Life Of Brian. Neben mir stehen junge Männer mit Walkie-Talkies und sichern die Vorstellung. Als die Schauspieler an uns vorbeilaufen, bin ich plötzlich doch aufgeregt.
Sing Hallelujah, Amen, Praise the Lord, wir sind auf dem Temple Plaza angekommen. Zwischen all den Menschen, die klatschen und mitsingen, fühle ich mich ungläubig. Als mein Großvater begraben wurde, war ich das letzte Mal in einer Messe. Die Sitzordnung war unwillkürlich getrennt zwischen denen, die zur Kommunion gehen und denen, die danebenstehen. Ich muss mich an meinem Vorsatz, hiervon zu berichten, festklammern. Sonst müsste ich gehen, auf der Stelle. Es gruselt mich.
Welcome, sagt der bärtige Mann auf der Bühne, er wolle uns ein paar Tipps mitgeben, wir sollten pünktlich zu den Vorstellungen erscheinen, God Bless and Shalom. 2001 von Marvin Rosenthal gegründet, schlitterte der Park wenige Jahre nach seiner Eröffnung in eine finanzielle Krise und war knapp davor, seine Tore zu schließen. Ein Zusammentreffen mit den Betreiber*innen des Trinity Broadcasting Network (TBN, ein christlicher Fernsehsender, der nach eigenen Angaben mehr als zwei Milliarden Menschen in der ganzen Welt erreicht) war die Rettung. 2007 erwarb TBN das Gelände. Der Park wurde ausgebaut und neue Shows entstanden. Seither produziert und sendet TBN seine christliche Botschaft von hier aus in die weite Welt.
Hinter Esther’s Banquet Hall steht ein Holzkreuz. Daneben ein Stapel Zettel, Prayer Request steht darauf. Please Pray for, und dann auszufüllen: der Vorname, das Geschlecht, das Alter. Monthly transportation to Israel provided free of charge. Irgendwann landet jeder dieser Zettel in der Western Wall. Zur Vorbereitung meiner ersten Beichte erklärte uns der Pfarrer, jede Sünde hinterlasse einen Punkt auf unserer Seele. Je nach Schweregrad sei dieser rot, blau oder schwarz. Jede einzelne Sünde müsse auf einem Zettel notiert werden, um keine zu vergessen, wenn wir nach acht Jahren endlich aller freigesprochen werden könnten.
Nach etwa einer Stunde komme ich wieder an dem Kreuz vorbei. Sechzehn Wünsche für Gebete sind bisher mit Pinnadeln daran angebracht worden, alle sind offen lesbar. Es gibt keine Geheimnisse unter Gläubigen vor Gott. Die meisten bitten um Gebete für Gesundheit oder einen besseren Job. For a change in my child’s life, bittet eine Frau. Manche Wünsche verschlüsselt man eben doch. Keiner hinterlässt seine Kontaktdaten, um über den Fortgang informiert zu werden. Von ihrer Wallfahrt nach Mariazell brachte mir meine Großmutter ein Kärtchen mit. Darauf abgebildet waren Maria und der Satz: Ich habe gebetet für dich. Vielleicht reicht es, daran zu glauben.
Scott steht in Pumas und Jeans in einem Modell der Stadt Jerusalem im Jahr 66 des Herrn. Hier könnte sich Maria gewaschen haben, sagt er, schließlich sei so eine Geburt eine schmutzige Sache. Auf dem Boden des Shops kniet eine Frau. Ihrem Kostüm nach zu urteilen eine Zeitgenossin Jesu Christi, sortiert sie Plastikschmuck auf einen Ständer. Zu kaufen gibt es außerdem eine Plüsch-Arche mit herausnehmbaren, jedoch einzelnen Tieren, Dead Sea Products und Kugelschreiber mit Psalmen oder den zehn Geboten darauf. Ob die Verkäuferin mehr als den Mindestlohn verdient? Um fünf Cent wurde er zu Jahresanfang in Florida angehoben, auf 8 Dollar und 10 Cent. Die Eintrittskarte für The Holy Land Experience kostet 50 Dollar, für jede von uns.
Scotts Laserpointer fährt nervös über die Stadt, der Ölberg, das Aquädukt, Golgota. Auf den Dächern Jerusalems kniet eine Frau. Sie brät Paprika, legt Teppiche aus. Auf anderen Dächern stehen Tongefäße, zwischen den Häusern Legionen von Römern. Scott fordert einen Mann auf, das Dach des Upper Room abzunehmen. Darunter: Jesus und seine Jünger beim letzten Abendmahl. Für eine Dauer von 15 Minuten kann man vier Mal täglich auch in The Holy Land Experience diesem letzten Mahl beiwohnen, jedoch ohne Verköstigung. Cola und Snacks kauft man in Esther’s Banquet Hall, Martha’s Kitchen oder dem Kiosk Last Snack.
Als Scott James, the brother of Jesus, erwähnt, bin ich irritiert. In 8 Jahren katholischem Religionsunterricht habe ich nie von ihm gehört. Auch wenn später Mary Magdalene als eine der Apostel genannt werden wird, werde ich überrascht sein. Bisher wusste ich bloß von zwölf Männern. Es gibt viele Möglichkeiten diese alte Geschichte zu erzählen. Als sich Scott Zeit für Fragen nimmt, nimmt ihn ein Paar in die Mangel. Wie gelehrige Schulkinder stellen sie ihre Fragen, um ihre Bibelfestigkeit zu demonstrieren. Dass es keine Türen und Fenster in Jerusalem gegeben habe, sagt Scott zum Abschluss, not as rainy as in Florida. Wir treten aus dem Shop. Die Sonne brennt. Der sonst regenreiche Winter hat Florida in diesem Jahr trocken zurückgelassen.
Woher die Leute kämen, fragt einer der Schauspieler als guter Entertainer. Utah? Ein paar Hände gehen hoch. Mexico? Gegröle. Eine große Gruppe, wahrscheinlich eine ganze Gemeinde, ist gemeinsam angereist. Sie tragen T-Shirts, auf denen der Name ihrer Kirche und The Holy Land Experience steht. Alle zusammen: Make a joyful noise to the Lord. Neben mir beschwert sich eine junge, hochschwangere Frau darüber, dass sie keinen Sitzplatz bekommen hat. Ihr Freund versucht sie zu beruhigen. Bless Baby, sagt er immer wieder. Sie nimmt seine Hand. Ein kleiner Junge wird auf die Bühne geholt. Gemeinsam singen alle ein Kirchenlied. Der Junge bewegt seine Hände schüchtern. Der Schauspieler greift nach seinen Gelenken, wedelt die Hände des Jungen wie Fähnchen in der Luft. Die Büsche neben dem Teich sind zu einem Satz beschnitten. He is risen, steht dort in dicken, gedrängten Lettern.
Pünktlich auf die Sekunde setzt die Musik ein. Alle beziehen ihre Posten, Maria, Magdalena und ein Römer. Während die Musik läuft, erklingt die laute Sirene einer Autoalarmanlage. Ein Mann taumelt von links auf den Marktplatz. Sein Körper blutig, seine Hände an einen großen Holzpfahl genagelt, wird er die wenigen Stufen auf den Berg Golgota geführt. Ein Römer verkündet sein Todesurteil, Jesus wird ans Kreuz genagelt. My God, why have you foresaken me, sagt er, das Kreuz nun aufrecht. Jesus stirbt, vor unser aller Augen. Aus der Menge ragen Handys in die Luft. Wollen sie diesen Moment für die Daheimgebliebenen festhalten? Für immer? Oder lässt sich die Unmittelbarkeit des Ereignisses nur ertragen, wenn man es durch den Apparat wahrnimmt? Die ersten Tränen werden schon vergossen, sagt meine Schwester. Dann steigt Nebel aus dem Grab auf. Keine fünf Minuten sind seit der Kreuzigung vergangen. Der Stein rollt zur Seite. Ein Mann tritt von links auf, Why are you crying?, fragt er die Schauspielerin, die Magdalena darstellt. Jesus ist auferstanden, verkünden sie gemeinsam. Die Menge applaudiert euphorisch.
In diesem Moment bin ich es, die den Glauben der anderen in Frage stellt, wie kann man, frage ich mich, diese Brüche ertragen? Ergriffen sein, trotz des Plastiks und der Offensichtlichkeit der technischen Tricks? In meiner Erfahrung heißt Glauben, sich der Macht der Vorstellung hinzugeben. Weil man Gott nicht sehen kann, braucht man Geschichten über ihn. Was aber passiert, wenn diese Geschichten echt werden, ein Gesicht bekommen und einen Arbeitsvertrag? Ein Vergnügungspark, notiere ich Wochen vor meiner Reise, ist das Gegenteil eines White Cube. Beiden gemein ist jedoch das Erschaffen einer Welt im Kleinen für die Erfahrung unter idealen Bedingungen. The Holy Land Experience ist anders und das nicht nur wegen seiner Klassizismus gone camp-Ästhetik. Die Grenzen zwischen der Darstellung von Glauben und dem Glauben selbst scheinen hier fließend. Der Jesus-Darsteller, den ich kurz danach auf der Bühne sehen werde, steht vor der Halle und gibt zwei Kindern seinen Segen. Nach der Vorstellung wird er dazu aufrufen, mit ihm gemeinsam zu beten. Er wird seine Hände auflegen und Heilung versprechen. Glauben ihm die Umstehenden? Oder reicht ihnen die Vorstellung? Muss Jesus seine Rolle spielen, damit auch das Publikum sich seiner Gläubigkeit versichern kann? Oder ist er am Ende doch ein Priester, waschecht geweiht? Dann aber stellt sich die Frage, ob ein Priester Jesus darstellen darf. Ist seine Aufgabe nicht nur die eines Botschafters und nicht des Gesandten? Wie sie es drehe und wende, sagt meine Schwester, es ergibt keinen Sinn, entweder handelt es sich um vorsätzliche Täuschung oder Blasphemie. Als sie Jesus und seine Jünger fotografieren will, sage ich, Mach das nicht. Wie in einer Kirche. Wir sind Zeuginnen geworden, Veronika und ich. Ob von Glauben oder Glaubensvorstellungen, weiß ich nicht.