Das brennendste Thema am Samstagabend während der Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Gent ist der Sturm. Alle Wege zurück führen über Köln, wo Sabine für Sonntagnachmittag angekündigt wird. Stündlich verschiebt sich ihre Ankunft nach vorn, und egal mit wem ich spreche, alle treffen Vorkehrungen. Dass sie ihre Reservierung noch umgebucht habe, sagt meine Lektorin, und irgendwann wird nur mehr über mögliche Abfahrtszeiten gesprochen: Um 7 Uhr 41? Gibt es nicht sogar einen Zug um 5 Uhr 41? Vielleicht liegt es am Alkohol, aber ich will mich von der Panik nicht anstecken lassen. Noch am Abend notiere ich: Es ist erstaunlich, wie sich der Sturm in die Konferenz drängt. Während auf den Panels das Hauptthema institutionelle Kritik ist – wie werden Theater diverser, offener und inklusiver –, gibt es ein Thema, das nie angesprochen wird: die konkrete Umwelt, in der die Theatergebäude stehen, in der die Theatergänger*innen und -mitarbeiter*innen leben.
Am nächsten Tag erwischt es mich dann in Bielefeld, es ist 16 Uhr 47, und der Zug wird angehalten, für mindestens zwei Stunden, heißt es. Der ganze Bahnverkehr in NRW würde eingestellt, lautet eine Lautsprecherdurchsage. Kurz darauf dann die nächste: Alle Bundeswehrsoldaten sollten sich an dem DB-Schalter melden. Bereits davor war mir aufgefallen, dass es einige von ihnen im Zug gibt, und ich frage mich, ob sie als mobile Katastrophenhilfe quasi gleich mitgebracht wurden oder ob hier in der Nähe bloß eine Kaserne ist. Werden sie abgeholt und nach Hause gebracht? Müssen sie auf die Strecke raus? Als ich diese Fragen stellen will, ist es zu spät, alle sind bereits ausgestiegen, allein fünf habe ich in meinem Wagen gezählt. Immer wenn die Zugtür aufgeht, hört man Sirenen von draußen, das Gröhlen der Fußballfans ist abgeflaut, für einen kurzen Moment klang alles so, wie ich mir einen gewaltsamen Umsturz vorstelle. Und wäre ein Sturm nicht ein guter Zeitpunkt?
Was auf der Tagung nicht diskutiert wurde: Wie können wir ästhetisch auf die Erderwärmung, auf den Anstieg der Meeresspiegel, auf die Waldbrände reagieren; wie kann Theater über das Massenaussterben, über die toten Koalas und verschwindenden Insekten, über die orkanartigen Stürme erzählen? Und muss es das? Als ich im letzten Herbst in England an einem Austausch zwischen Schaubühne Berlin und Royal Court Theatre London teilnahm, sagte die Literaturmanagerin des Royal Court irgendwann: Why blame it on the authors? They have been writing about this for a decade at least. It’s the institutions that need to act now. Das Royal Court, erzählte sie, befinde sich in einem Prozess der Klimaneutralisierung, man wolle das erste Theater in England werden, das klimaneutral produziert.
Dann kommt die nächste Durchsage, kein einziger Zug fahre mehr in NRW. Ich hole mein MacBook aus dem Rucksack und beginne zu notieren: Ich bin eine Zeugin des Totalausfalls. Vor und hinter mir beginnen die Menschen zu telefonieren. Sucht ihr euch einen vierten Mann für morgen, sagt eine Frau ins Telefon, ich stecke in Bielefeld fest. Dass sich Leute schon zusammengetan hätten, um mit dem Mietwagen nach Berlin zu fahren, sagt mir mein Sitznachbar, als er aus dem Bordbistro kommt. Ich hänge in Bielefeld fest, und es fährt kein Zug mehr, sagt ein anderer Mann in sein Handy. Der Geräuschpegel steigt. Alle tun kund. Um 17 Uhr 34 kucke ich das erste Mal nach einem Hotelzimmer online. Die Abfahrt wird auf frühestens 19 Uhr 58 Uhr verschoben. Während ich das notiere, fühle ich mich wie ein Liveticker. Aber es gibt als Schreibende doch so etwas wie eine Pflicht zur Zeugenschaft, werde ich später in einem Chat schreiben.
Ich reihe mich ein in die Hotelschlange, immer wieder überholen uns Leute, eine ältere Frau neben mir echauffiert sich, und ich sage: wahrscheinlich Onlinebuchung. Rund um mich sind einige Menschen an ihren Handys, schreiben sie mit Angehörigen oder machen sie schnell ihr Zimmer klar? Die Frau vor mir in der Schlange öffnet eine Buchungsplattform. Als ich sie frage, ob sie sehen könne, wie viel ein Zimmer hier koste, sagt sie: Zwischen 80 und 100 Euro, je nachdem, was man sucht. Danach dreht sie sich demonstrativ um, damit ich nicht mehr auf ihren Handybildschirm kucken kann. Kinder lungern in der Lobby herum, versinken in gepolsterten Sesseln und daddeln auf den Handys ihrer Eltern herum. Wie nehmen sie die Situation wahr, fürchten sie sich, ist es ein Abenteuer? In Socken laufen sie über den Teppichboden, ein Kleinkind fällt hin, bricht aber nicht in Tränen aus. Wo ist hier die Toilette, fragt ein Mädchen an der Rezeption. Um 19 Uhr 02 betrete ich dann mein Zimmer. Es ist riesig, ein Luxus, den ich mir sonst nicht gönnen würde. Geld, notiere ich, kann diesen Umstand nicht ändern. Aber es kann ihn extrem erleichtern. Noch vor ein paar Jahren wäre es mir finanziell nicht möglich gewesen, einfach so das Geld für ein Hotelzimmer aufzubringen, es vorzustrecken, ohne zu wissen, ob und wann und wenn, dann in welcher Höhe die Bahn die Kosten rückerstatten wird. Ich hätte im Bahnhof ausgeharrt, vielleicht hätte ich mir zumindest eine Tasse Tee gegönnt, viele meiner Reisen sind früher so abgelaufen. Als der Rezeptionist, der sichtlich gestresst war, mir das Comfortzimmer für 104 Euro ohne Frühstück angeboten hatte, hatte ich ohne Zögern gesagt: Nehme ich, ich bezahle mit Karte.
Um 19 Uhr 38 gehe ich noch einmal raus, um mir ein Bier zu holen. Es ist windig, ja, es regnet ein wenig, aber vom Sturm bisher keine Spur. Auf dem Flur im Hotel treffe ich einen Mann, er grüßt mich, wir erkennen uns aus der Schlange wieder. Ob er gehört habe, wann die Züge morgen wieder fahren? Keine Ahnung, sagt er, das weiß niemand, auch die Deutsche Bahn nicht.
Zurück in meinem Zimmer notiere ich: Wie kann man anders als in Sensationalismen über dieses Unwetter schreiben? Unwetter, das ist ein irreführender Begriff, als wäre es ein Nicht-Wetter, wo es doch das eigentlichste Wetter ist, nämlich das, das sich bemerkbar macht, das nicht berechenbar ist, mit dem sich nicht planen lässt, das mir einen Strich durch die Reisepläne macht, das mich hier stranden lässt. Es gibt kein außerhalb des Wetters – und genau das ist der springende Punkt. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm findet sich unter Unwetter die folgende Bemerkung: »[V]erschwindet im 18. jahrh. aus der literaturspr., so dasz es unsern classikern fehlt, und kommt erst wieder im 19. jahrh. zu verdienter verwendung«, und, etwas weiter, »vgl. donner-, hagel-, heiden-, hudel-, hunde-, huren-, lause-, lumpen-, misz-, sau-, sturm-, sudel-, waswetter«. Sind das angemessene Begriffe für das, was hier passiert?
Mein Wecker klingelt am nächsten Morgen um 8 Uhr, und das Erste, was ich mache, ist die DB-Seite aufzurufen. Angezeigt wird eine außerplanmäßige Verbindung mit Regional- und IC-Zug über Braunschweig. Als ich zum Bahnhof komme, ist die Verbindung schon wieder abgesagt. Das Problem, sagt die Frau am DB-Schalter, ist nicht nur, die Züge gestellt zu bekommen. Sie müssen auch die Strecke passieren können. Sie rät mir davon ab, eine Reservierung für einen späteren Zug vorzunehmen. Seien Sie froh, sagt sie, wenn Sie überhaupt in einen Zug reinkommen. Ich laufe also los, laufe in die Einkaufsstraße, vorbei am Theater, an Klamottenläden, an einem Internetcafé. In einem Café bestelle ich einen Cappuccino. Plötzlich reißt die Wolkendecke auf, die Sonne strahlt. Eine Frau an einem Nebentisch sagt: Jetzt scheint die Sonne, als ob nichts gewesen wäre. Die ganze Nacht habe ich tief und fest geschlafen, nichts von dem Sturm mitbekommen. Der Sturm ist ein Phantom, eine Geistererscheinung, eine unsichtbare Naturkraft. Wie kann man den Sturm erzählen, notiere ich, wie kann man die nichtmenschlichen Agent*innen erzählbar machen? Denn sofort setzt das Erzählbedürfnis bei mir ein, zu viele Szenen habe ich gestern und heute gesehen, die mir als spannende Ausgangspunkte für einen Text erscheinen. Der Firnis der Zivilisation ist brüchig, eine Irritation im Infrastrukturgewebe, und schon wackelt der Zusammenhalt. Plötzlich ertönt im Radio ein Lied, das ich ewig nicht gehört habe, aber immer noch auswendig mitsprechen kann: Plitsch-platsch-nass floh ich unter das Vordach des Fachgeschäfts, vom Himmel goss ein Bach, ich schätz, es war halb acht …
Auf der Hinfahrt nach Gent am Freitag las ich ein Manuskript, in dem es um die Frage nach der Gewaltfreiheit in der Klimabewegung geht. Der Autor argumentiert, dass diese nicht zu halten sein wird. Ich notiere: Doublebind der Infrastruktur – wir müssen die Infrastrukturen der Umweltzerstörung angreifen, bevor die verbindenden Infrastrukturen zerstört werden. Um das zu erhalten, was unser Leben erhält, gilt es das zu zerstören, was unsere lebensbejahende Infrastruktur bedroht, nämlich die Erdöl- und Kohleinfrastruktur. Macht kaputt, was euch kaputt macht, hieß das einmal. Die Frage nach Klimagerechtigkeit ist nicht zu trennen von jenen nach race, class und gender.
Als ich um 12 Uhr 30 zum Bahnhof zurückkomme, ist es das Gleiche wie davor: Zug fällt heute aus, steht hinter beinahe jeder Verbindung. Doch dann wird der ICE nach Berlin doch angekündigt. Ich gehe auf den Bahnsteig, der Wind ist jetzt beißend, kommt in Böen, plötzlicher Regenfall. Auf den Nachbargleisen stehen fünf Männer in orangenen Schutzanzügen und bearbeiten die Gleise. Auf dem Bahnsteig zwei Männer in neongelben Schutzanzügen, die dabei zusehen. Mit etwas mehr als vierzig Minuten Verspätung fährt ein ICE ein. Die junge Frau, neben der ich einen Platz finde, hört sich eine Vorlesung an und macht sich Notizen. Es geht um Wärmebilder und Klimaveränderung, es geht um Farbräume und deren Umrechnung, es geht um jene Art von Bildern, die am Vortag auf unser aller Handys das Sturmtief Sabine und seinen Verlauf gezeigt haben. Auch das ist eine Darstellungsform. Aber vielleicht gilt es heute wie noch nie, literarische, ästhetische, sinnliche Formen für die Veränderung des Klimas zu finden. Damit es über uns nicht auch heißen wird: aus der Literatursprache verschwunden.