Alles beginnt mit einem Virus. In meinem Postfach ploppt eine neue Nachricht auf. Sie kommt von meinem Chef. Komisch, denke ich, dass er mir wie früher, als ich noch frei für ihn gearbeitet habe, an meine private E-Mail-Adresse schreibt. Ich öffne die Nachricht, sie ist kurz, eine Antwort auf eine meiner Nachrichten, und sie enthält einen Link. Ich versuche mich kurz an das Projekt zu erinnern, das dazugehörige Buch steht längst in meinem Bücherregal. Zögerlich streife ich mit dem Cursor über den Link, mein Blick geht noch einmal zurück zur E-Mail-Adresse. Der Name meines Chefs steht da. Aber die Adresse ist eine vollkommen andere. Ich lösche die Nachricht schnell und beinahe reumütig, weil ich kurz davor war, den Link zu öffnen, curiosity wins.
Ich weiß noch, wann ich mein erstes Passwort bekommen habe, es war im Jahr 1999, ich war vierzehn Jahre alt und mein Vater, der als Programmierer eine Affinität zu neuen Technologien hatte (die so neu damals auch nicht mehr waren), eröffnete für mich einen E-Mail-Account – ebenso für meine ältere Schwester und eine »Familienadresse« für ihn und seine Frau. Meine Adresse lautete »m_schrefel@yahoo.de«, und mein Passwort war eine simple Kombination aus fünf Buchstaben. Das erste Passwort, das ist wie der erste eigene Schlüssel, den ich als Grundschülerin bekam, um mich nach der Schule selber in die Wohnung zu lassen. Meist kochte ich dann Trockengnocchi mit Käse, TK-Kräutern und Butter, manchmal auch Maggi Nudel Snack. Das erste Passwort, das ist wie das erste eigene Konto, in meinem Fall ein Megacard-Konto der Bank Austria, ein paar Jahre vor dem ersten E-Mail-Account, ich glaube, ich war zwölf Jahre alt, und wenn ich mich recht erinnere, bekam ich damals hundert Schilling im Monat darauf überwiesen, das wären heute keine zehn Euro, aber es war sehr viel Geld.
Der Unterschied ist jedoch, dass sich die Passwörter mit uns weiterentwickeln. Während mein Konto nach wie vor dasselbe ist, auch wenn andere dazugekommen sind, mein Schlüssel von damals nicht mehr schließt, weil längst eine andere Familie in jener Erdgeschosswohnung in einer Sozialwohnsiedlung im nordöstlichen Wien lebt, sind es die Passwörter, die sich wie kleine Steine in meinem Leben ablagern. Ich kann anhand des Passworts eruieren, wann ich einen Account, ein Benutzerkonto oder -profil erstellt habe. Meine Passwörter wachsen, wuchern, werden irgendwann zu Dead-Ends, weil eine neue Idee sicherer oder schlicht leichter zu erinnern scheint.
Es gibt diesen Film über Alan Turing, den ich vor Kurzem gesehen habe, und selbst wenn die Geschichte bekannt ist, will ich sie hier doch kurz rekapitulieren: Turing, einer der begabtesten Mathematiker des 20. Jahrhunderts, stand während des Zweiten Weltkriegs im Dienst des britischen Militärs. Zusammen mit einer Gruppe von Kryptologen und anderen Mathematikern entwickelt er schließlich eine Maschine, die den Verschlüsselungscode der Nazis knackt. Der Schlüsselmoment, wie der Film ihn erzählt, zeigt Turing in einer Art Kneipe, als er zu begreifen beginnt, was eine der Stenografinnen, die die codierten Nachrichten transkribieren, soeben gesagt hat: Sie kenne ihr deutsches Gegenüber, den Funker, weil er jede seiner Nachrichten mit demselben Wort beginne, einem Namen – Cilly. In diesem Moment, so will es der Film, erkennt Turing, dass seine Maschine, die bisher noch zu langsam war, um den täglich wechselnden Code zu entschlüsseln, nicht alle nur irgend möglichen Buchstabenkombinationen durchspielen muss, sondern dass man sich auf bekannte Begriffe und Wendungen konzentrieren kann – das ubiquitäre »Heil Hitler«. Der Film erzählt das vereinfacht, Fakt bleibt jedoch: Der Krieg wird gewonnen. Turing aber, der homosexuell war, wird einer gesetzlich erzwungenen Hormontherapie unterworfen, der er sich durch seinen Selbstmord entzieht.
Das fünfstellige Passwort behielt ich, bis ich 2006 für eine Ausbildung nach Schweden ging, die es heute nicht mehr gibt. Für die Dauer der Ausbildung bekamen wir jede und jeder ein MacBook zur Verfügung gestellt – und eine klingende E-Mail-Adresse. Ich kannte diese Arbeitsadressen von »Erwachsenen« und war stolz, nun, mit Anfang zwanzig, auch eine solche zu haben. Sie lautete »magdalena.schrefel@globalverkstan.net«, und mein Passwort, das ich mir zugegebenermaßen nicht selbst ausgesucht hatte, enthielt nun immerhin auch zwei Ziffern, es waren die ersten Ziffern, die ich auf Schwedisch zu sprechen lernte, und bis heute murmle ich, wenn ich an das Passwort denke, »Otta« und »Fyra«.
Baudrillard schreibt über (Paß-)Wörter: »Als magische Operatoren mit gewissem Charme übermitteln sie nicht nur …, sondern sie selbst werden zu Metaphern und verwandeln sich in einer Art Spiralbewegung ineinander. Auf diese Weise sind sie Überträger und Schmuggler von Ideen.« Genau so stelle ich mir Passwörter vor, wie das Sesam-öffne-dich aus 1001 Nacht, wie Codes, in Geheimtinte notiert, die nur von exakt einem Augenpaar entziffert werden können. Als würde etwas einrasten, ja, wenn ich ehrlich bin, dann stelle ich mir Passwörter eigentlich mechanisch vor, wie Turings Maschine, die doch das Digitale schon vorausahnte. Ich frage mich, wofür man Passwörter im mechanischen, prädigitalen Zeitalter gebraucht hat. Es gab wohl kaum die gleiche Verbreitung, ihre Vielzahl, ständig wachsend, Passwörter als das Bambus des Internets.
Nachdem der E-Mail-Account unseres Chefs gehackt wurde, erzählt mir ein Kollege, was das Passwort dafür gewesen sei, ––, sagt er, keine Sonderzeichen, keine Ziffern, und wir wundern uns, dass der Account nicht schon viel früher gehackt wurde. Gleichzeitig fällt mir ein, dass ich mehr als ein Passwort in meinen E-Mails gespeichert habe, auch in meinem Handy. Die Logik dahinter: So sind sie immer parat. Die plötzliche Erkenntnis: auch für andere, wie auf einem Präsentierteller.
Wie die Wörter, so haben auch die Passwörter ein Eigenleben – und sind dadurch gebunden an eine Lebensdauer. Weil jedes Leben auch mal zu Ende geht. Gibt es einen Friedhof der Passwörter und wenn ja, wie muss man sich den vorstellen? So wie ich Accounts gelöscht habe (Couchsurfing, MySpace, facebook), habe ich mit ihnen auch Passwörter begraben. Manche aber dürfen dann andernorts wiederauferstehen – als Wiedergänger, als Zombies oder als Ahnen, die in ihrem eigenen Leben schon gut gedient, vielleicht sogar Glück gebracht haben – und jetzt ihren guten Geist übertragen sollen. Wie ein Schutzzauber, ein Amulett.
Als Nächstes wird einer meiner Kollegen gehackt, wieder funktioniert der daraus resultierende Spam in der gleichen Art: Ein Empfänger bekommt als Antwort auf eine ältere E-Mail eine vermeintliche Replik, mit Link versehen. Im Büro gehen zahlreiche Anrufe ein, von Leuten, die den Link geöffnet haben, woraufhin ihr Bildschirm schwarz wurde. Es ist unheimlich, und ich beschließe, sofort mein Passwort zu ändern. Um es mir zu merken, notiere ich es mit Bleistift auf Papier in meinen Kalender.
Dass Passwörter schwach oder stark sein können, liest man oft, wenn man ein neues Passwort eingeben muss, und noch während ich tippe, steigt der Balken von rot über gelb zu grün. Ich vertippe mich, muss noch einmal von vorn anfangen. Und dann steckt er im Schloss, der neue Schlüssel, dahinter die alte Wohnung. Ich such online nach der Etymologie des Wortes, der Duden sagt: 1) Losung, Kennwort oder 2) nur Eingeweihten bekannte, aus Buchstaben, Ziffern oder Sonderzeichen bestehende Zeichenfolge, die den Gebrauch einer Sache, den Zugang zu ihr ermöglicht und sie gegen den Missbrauch durch Außenstehende schützen soll. Gräbt man weiter, so findet man im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch: paswort, das; volksetymologische Umdeutung von pasport, also Pass, Reisedokument, aber auch Abschied, Weggang. Aufschlussreich dann auch noch das Schweizerische Wörterbuch Idiotikon: Passwort – Am Himmelstörli sin-d Guettät an Armen-n d’s best Passwort.
Einige Wochen später besuche ich kurz Freundinnen und Freunde in Wien, keine 72 Stunden bin ich dort, trotzdem mache ich eine Wohnungsbesichtigung. Ein Freund hat eine Wohnung gekauft, die Dinge, die manche Menschen in meinem Alter eben tun, und stolz zeigt er mir den Boden, den er soeben abgeschliffen und mit Öl eingelassen hat. Was der Vorteil davon sei? Die Maserung des Holzes ist zu sehen, das Holz kann atmen, anders als unter einer Lackversiegelung. In der Wohnung gibt es viele Einbauschränke, einige davon hat er entfernt, wie kleine Höhlen, denke ich. Und dann kommt das Beste. In einem der Schränke, in die Wand eingelassen, versteckt sich ein Safe. Kennst du die Zahlenkombination?, frage ich. Mein Freund schüttelt den Kopf. Wir mutmaßen, dass sich darin ein Schatz verbirgt, zumindest eine Schatzkarte, darauf verzeichnet Gold, das jemand in den Kriegswirren vergraben hat – geschützt bis heute von einem Passwort, das niemand mehr kennt.
Wieder zurück in Berlin lese ich in der U-Bahn auf dem Screen im Berliner Fenster: Man solle nicht nur Passwörter regelmäßig wechseln, sondern für jeden Dienst ein eigenes erstellen, rate das Magazin c‘t. Ich steige aus der U-Bahn aus, gehe die Treppen hoch, überquere zwei Ampeln, biege dann in die Querstraße ein und krame nach meinem Schlüsselbund. Er ist schlank, gerade mal vier Schlüssel sind daran, und ich beginne meinen imaginären Schlüsselbund durchzuzählen: Gmail, Strato, Pondus; Bank Austria, Sparkasse, ING-DiBa (gleich zweimal); MGT, DT, VB, HdBF und HAU; Deutsche Bahn, Booklooker, Amazon; Kauf dich glücklich, Nike und Adidas und wahrscheinlich auch H&M, es ist mein geheimer Schlüsselbund, der ständig wächst, der jetzt, 2020, schon richtig dick und schwer, aber trotzdem nicht unhandlich ist. Ich stelle mir vor, wie die einzelnen Schlüssel aussehen, manche von ihnen schließen mehr als eine Tür auf, und sie alle öffnen Tore, hinter denen mein Leben sich abspielt.
Und ich erinnere mich an den Schlüsselbund meiner Mutter, als ich ein Kind war, mit Staunen erfüllte er mich, weil darauf wirklich unfassbar viele Schlüssel waren, die ich gerne zählte und nach deren Schlössern ich fragte. Damals schien es mir, dass man bloß ausreichend Schlüssel haben müsse. Heute habe ich den Eindruck, dass es nicht die Schlüssel sind, weil diese letztendlich ersetzbar sind. Der Schlüsseldienst, jederzeit, 24/7 parat. Wie oft vergesse ich mein Passwort, weiß nicht mehr, war es dieses oder jenes, probiere einmal, ein zweites Mal, muss wohl ein Drittes gewesen sein. Aber keines passt. Also Passwort zurücksetzen – und das neue? Egal, Einmalgebrauch. Es gibt eine Abstufung wie bei Wohnquartieren oder Literaturpreisen, im Spandau des Internets gebe ich mir nicht die Mühe, das Passwort zu notieren.
Aber es gibt auch ein anderes Verhältnis zu Passwörtern, akribisch habe sie alle in einem Heft notiert, sagt meine Kollegin, und dieses Heft sei ihr nun gestohlen worden. Als ich das Atelier an jenem Tag verlasse, bin ich nachdenklich, was, wenn ich einen Unfall habe, mit dem Fahrrad oder wenn ich die Straße überquere? Und mich dann nicht mehr erinnern kann, an keine der Zahlen- oder Buchstabenkombinationen, wie komme ich dann an meine E-Mails, an mein Bankkonto, ja überhaupt an meine Daten, denn auch mein Rechner ist passwortgeschützt. Was geschieht dann mit meinen Texten?! Ich werde panisch, der Gedanke verlässt mich nicht mehr, dass ich irgendwo alle, wirklich alle Passwörter speichern muss. Sogar die, die ich nie benutze. Aber wo, auf Papier? In einer Cloud? Einem Menschen alle verraten? Auf dass er oder sie sie hüte. Aber wo, in seinem oder ihrem Gedächtnis? Verschiebt das nicht nur die Frage? Und welcher Mensch soll das sein, jemand Vertrautes – obwohl Passwörter langlebiger als manche Freund- und meine bisherigen Partnerschaften sind – oder genau das Gegenteil davon, eine Notarin, jemand, den ich dafür bezahle, meine Passwörter zu hüten? Ein Schließfach, fällt mir ein. Aber ist nicht auch das mit einem Passwort verbunden? Die Frage nach den Passwörtern fühlt sich plötzlich prekär, heikel und ultrapersönlich an. Sie macht mich nackt und verletzbar. Es kommt mir so vor, als müsste ich entscheiden – jetzt und hier, sofort und unwiderruflich –, wem ich meine Schlüssel anvertraue, vielleicht auch: wem ich mein Leben in die Hände lege, zumindest aber, wem ich Zugang dazu gebe, unverschlüsselt. Vielleicht, notiere ich abends, vielen Menschen je eines anvertrauen? Schwarmsicherheit! Ja, Schwarmsicherheit, das scheint mir am sichersten, ein <3 für die crowd.